10. Kapitel - Der Eine

739 45 2
                                    

Stille trat ein. Alle Augen richteten sich auf den Hobbit Frodo. Der Ring schimmerte und funkelte, als er ihn mit zitternder Hand emporhielt.
»Sehet da! Isildurs Fluch!«, rief Elrond. Seine grauen Augen blickten hin zum Ring. Auch meine Augen musterten ihn und ich rätselte, wie etwas so Kleines so viel Schrecken und Grauen verursachen konnte.
Dem Hobbit war es sichtlich unangenehm, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, und ich empfand Mitleid, denn er schien immer kleiner zu werden. Als ich meine Aufmerksamkeit wieder der Ratssitzung zuwendete, bemerkte ich Legolas' Blick auf mir ruhen. Mit fragendem Blick schaute ich ihm entgegen, doch er wandte seinen Kopf wieder ab, so, als ob ihm klargeworden wäre, dass er mich angesehen hatte. Ich schüttelte nur irritiert meinen Kopf, dachte nicht weiter über diesen Zwischenfall nach. Vielleicht ging ihm immer noch der Vorfall mit Boromir durch den Kopf, oder etwas anderes.
Gerade erzählte Bilbo seinen Bericht. Ich lauschte begierig. Der ältere Hobbit erzählte stolz von seinem Abenteuer und ließ kein einziges Rätsel aus, welches mit Gollum in Verbindung stand. Wollte der Halbling doch gar noch, im Eifer des Gefechts, über seinen grandiosen Abschied vom Auenland berichten, hätte Meister Elrond nicht abgewinkt.
»Trefflich erzählt, mein Freund«, sagte der Herr von Bruchtal, »doch mag dies einstweilen genügen. Fürs Erste müssen wir nur wissen, dass der Ring an Frodo, deinen Erben, übergeben ward. Nehme er nun das Wort!«
Jeder sah zum anderen Hobbit, dessen Augen zögerlich durch die Anwesenden glitten. Frodo berichtete über die Geschehnisse in Verbindung des Einen, jedoch weniger bereitwillig als Bilbo. Danach meinte der Hobbit, dass er noch gerne hören würde, was Gandalf zu sagen hätte, und Galdor von den Anfurten sah dies ähnlich, denn er sprach: »Auch für mich sprichst du, Frodo aus dem Auenland!«, er wandte sich an Elrond, »Aus gutem Grund mögen die Gelehrten glauben, dass des Halblings Fund wirklich der viel besprochene große Ring sei, so wenig wahrscheinlich dies den minder Kundigen anmutet. Doch können wir nicht die Beweise hören? Und noch eines wüsste ich gerne: Was sagt Saruman? Ringkundig ist er wie wenige sonst und doch ist er nicht in unsere Reihen anwesend. Welches ist sein Ratschluss – wenn er von alledem weiß, was wir soeben hörten?«, fragte er und auch ich fand die Fragen interessant. Saruman war ein großer Zauberer, dennoch war er nicht unter uns.
»Miteinander verbunden sind deine Fragen, Galdor«, sagte Elrond, »Vergessen sind deine Fragen nicht worden, und sie sollen beantwortet werden. Doch dies zu erklären, ist Gandalfs Sache, und ihn rufe ich nun als Letzten auf, denn dies ist der Ehrenplatz. In dieser ganzen Sache ist Gandalf der Lenker und Leiter gewesen.«
Gandalf der Graue nickte, im Anschluss sah er den Elben Galdor von den Anfurten an und erhob seine Stimme: »Manche würden meinen, Galdor, dass Glóins Nachricht und Frodos Verfolgung zur Genüge beweisen, dass der Fund des Halblings für den Feind ein Gegenstand von hohem Wert ist. Der Feind möchte einen Ring, doch welchen fragst du dich? Die Neun haben die Nazgûl. Die Sieben wurden zurückgenommen oder vernichtet. Über die Drei sind wir im Bilde. Welcher also ist dieser eine Ring, den er so heiß begehrt? Zwischen dem Strom und dem Gebirge, zwischen dem Verlust des Ringes und dem Wiederfinden erstreckt sich freilich in der Zeit eine weite Wüste. Jetzt wurden diese Wissenslücken geschlossen, wenn auch leider sehr spät. Der Feind war und ist uns immer noch dicht auf den Fersen. Wir haben Glück, dass er erst in diesem Jahr, in diesem Sommer nämlich, wie es scheint, die volle Wahrheit erfahren hat.«
Gandalf lehnte sich nach vorne, stützte sich auf seinen Stab und sah alle nacheinander an, dann sprach er weiter: »Manche hier werden sich erinnern, dass ich selbst mich vor vielen Jahren einmal über die Schwelle des Nekromanten in Dol Guldur gewagt und sein Treiben dort heimlich erforscht habe. Dabei fand ich heraus, dass unsere Befürchtungen zutrafen: Er war niemand anders als Sauron, unser alter Feind, der nun wieder zu einer Gestalt und zu Kräften kam. Einige werden sich auch erinnern, dass Saruman der Weiße uns von offenen Feindseligkeiten gegen ihn abriet, und lange haben wir ihn nur beobachtet. Doch endlich, als sein Schatten wuchs, gab Saruman nach, und der Rat bot seine Kraft auf und vertrieb das Übel aus dem Düsterwald, und zwar im gleichen Jahr, in dem auch dieser Ring gefunden wurde  ein merkwürdiger Zufall, wenn es denn einer war. Jedoch, wie Elrond vorausgesehen hatte, wir kamen zu spät. Sauron hatte uns ebenso schon lange beobachtete und sich auf unseren Schlag lange vorbereitet. Mordor regierte er, bevor dort alles bereit war, schon aus der Ferne über Minas Morgul, wo seine neun Diener saßen. Dann nahm er vor uns Reißaus, aber nur zum Schein, und bald darauf nahm er den Dunklen Turm wieder in Besitz und gab sich offen zu erkennen. Darauf trat der Rat zum letzten Mal zusammen, denn nun hatten wir erfahren, dass er den Einen suchen ließ. Wir befürchteten, er könne irgendeine Nachricht über ihn haben, von der wir nichts wussten. Saruman aber versicherte, daran sei nichts und wiederholte, was er uns schon früher gesagt hatte; dass der Eine niemals wieder in Mittelerde zu finden sein werde. Im schlimmsten Falle, sagte er, weiß unser Feind, dass wir ihn nicht haben und dass er noch immer vermisst wird. Doch was verloren ging, mag wiedergefunden werden, denkt er. Fürchtet nichts! Trügen wird ihn die Hoffnung. Habe nicht ich diese Sache ernstlich erforscht? In den großen Anduin ist der Ring gefallen, und längst, während Sauron noch schlief, ist er stromabwärts ins Meer gespült worden. Dort mag er liegen bis an der Welt Ende.«
Der Zauberer kam zu einer kurzen Pause. Er blickte über die Terrasse nach Osten zu den fernen Gipfeln des Nebelberges hinauf, dann seufzte er tief und setzte seine Erzählung fort: »Da nun machte ich einen Fehler. Ich ließ mich von den Worten des weisen Saruman einlullen, doch hätte ich mich früher bemühen sollen, der Wahrheit auf den Grund zu kommen, und die Gefahr für uns wäre jetzt geringer.«
»Nicht nur du hast diesen Fehler gemacht; alle haben wir diesen Fehler begangen«, meinte Elrond, »und wärest du nicht wachsam gewesen, hätte die Finsternis uns vielleicht schon umfangen. Doch sprich weiter!«
»Dass Böses auf uns zukommt, hatte ich schon immer, tief in meinem Inneren, geahnt. Und ich wollte unbedingt herausfinden, wie Gollum zu dem Ding gekommen war und wie lange er es besessen hatte. Also stellte ich Wachen auf, weil ich mir dachte, dass er bald aus seinen dunklen Höhlen hervorkommen würde, um nach seinem Schatz zu suchen. Er kam tatsächlich, doch er entwischte uns und war nicht zu finden. Und dann, o weh, ließ ich die Sache auf sich beruhen und begnügte mich damit, zu beobachten und abzuwarten, wie wir es leider schon allzu oft getan haben. Viel Zeit verging, bis meine Bedenken plötzlich wieder auflebten und zu starken Befürchtungen wurden. Woher kam der Ring des Hobbits? Und, wenn es so war, wie ich befürchtete, was sollte damit geschehen? Darüber musste ich Klarheit gewinnen. Zunächst aber sprach ich über meine Sorge mit niemandem, denn ich weiß, wie gefährlich schon eine Andeutung zur falschen Zeit sein kann, wenn sie sich als Gerücht ausbreitet. In all den langen Kriegen mit dem Dunklen Turm ist Verrat immer unser ärgster Feind gewesen. All dies war vor siebzehn Jahren. Bald konnte ich bemerken, dass Spione jeder Art, selbst Tiere, sich um das Auenland sammelten, und meine Sorge wurde immer größer. Ich bat die Dúnedain um Hilfe und ihre Wachen wurden verdoppelt. Und zu Aragorn, Isildurs Erben, sagte ich, was mir auf dem Herzen lag.«
»Und mein Rat war«, sagte Aragorn, »die Jagd nach Gollum wieder aufzunehmen, wenn es auch vielleicht schon zu spät war. Und da ich es nur recht und billig finde, dass Isildurs Erbe etwas tut, um Isildurs Fehler wiedergutzumachen, ging ich mit Gandalf auf die lange, hoffnungslose Suche.«
Nach diesen Worten vom Waldläufer berichtete Gandalf, wie sie ganz Wilderland von Norden bis Süden durchstreift hatten, bis hinunter zum Schattengebirge und den Wällen um Mordor, wo es Gerüchte über Gollum gegeben hatte, denn dieser hatte dort vermutlich lange in den dunklen Bergen gehaust. Sie hatten ihn jedoch nicht finden können, bis sie es aufgegeben hatten.
»In meiner Verzweiflung kam ich schließlich auf den Gedanken, eine Probe zu machen, durch die sich die weitere Suche nach Gollum vielleicht erübrigen würde«, sagte Gandalf, »Der Ring selbst konnte mir vielleicht sagen, ob er der Eine war. Mir fiel etwas ein, das ich bei einer Ratssitzung gehört hatte, eine Bemerkung Sarumans, die mich damals wenig interessiert hatte. Nun aber kam sie mir wortwörtlich in Erinnerung. Die Neun, die Sieben und die Drei, hatte er gesagt, hatten jeder einen besonderen Edelstein. Nicht so der Eine. Der war glatt und ohne jegliche Verzierungen wie einer der niederen Ringe, doch der Schmied schrieb Zeichen darauf, die mit kundigem Blick vielleicht zu sehen und zu lesen wären.«
Doch Saruman hatte Gandalf damals nicht gesagt, was dies für Zeichen waren. So hatte sich der Zauberer gefragt, wer es zu diesen Zeiten wissen könnte, was diese Zeichen sagten. Er hatte sich gefragt, wer, außer Sauron, den Einen jemals in der Hand gehalten hatte, und so hatte sich Gandalf auf den Weg nach Gondor gemacht, denn Isildur hatte den Einen besessen. Dort hatte er Schriften aus den alten Schatzkammern durchstöbert, wenn auch widerwillig vom Statthalter Denethor gestattet.
»Und dort, Boromir, in Minas Tirith, liegt, ungelesen, nehme ich an, von allen außer Saruman und mir, seit das Königshaus erloschen ist, eine Schriftrolle, die Isildur selbst verfasst hat. Denn Isildur ist nicht gleich nach dem Krieg in Mordor wieder davongezogen, wie manchmal erzählt wurde.«
»Manchmal im Norden vielleicht«, unterbrach ihn Boromir, »In Gondor weiß jedermann, dass er zuerst nach Minas Anor ging und eine Weile dort blieb, um seinen Neffen Meneldil zu unterweisen, ehe er ihm die Herrschaft über das südliche Königreich übertrug. Zu der Zeit pflanzte er, zum Andenken an seinen Bruder, den letzten Setzling des Weißen Baumes ein.«
»Aber zu der Zeit schrieb er auch diese Rolle«, sagte Gandalf, »Und zwar schreibt Isildur: Der Große Ring werde nun ein Erbstück des Nordreiches; doch Berichte über ihn mögen auch in Gondor hinterbleiben, wo ebenfalls die Erben Elendils verweilen, damit keine Zeit komme, da die Erinnerung an diese großen Dinge trüb wird. Und nach diesen Worten beschreibt Isildur den Ring, wie er war, als er ihn an sich nahm: Heiß war er, als ich zuerst nach ihm griff, heiß wie glühende Kohle, sodass mir die Hand versenget ward und ich nicht weiß, ob ich des Schmerzes je ledig sein werde. Doch dieweil ich schreibe, kühlet er ab, und mich dünkt, er schrumpfet, bußet indes nichts an Schönheit ein noch an Form. Schon verblasset die Inschrift, so darauf zuerst hell geleuchtet wie eine rote Flamme, und ist nun kaum mehr zu lesen. In einer Elbenschrift von Eregion ist sie gehalten, als sie denn in Mordor für solch feine Züge der Lettern entraten; doch unbekannt ist mir die Sprache. Eine Zunge des Schwarzen Landes wird sie wohl sein, denn grob und garstig ist sie. Was Böses darin besaget, weiß ich nicht, zeichne aber hier die Lettern ab, sodass sie erinnerlich bleiben, sollten sie bis zur Unkenntlichkeit verblassen. Der Ring vermisset vielleicht die Hitze von Saurons Hand, die schwarz war und doch brannte wie Feuer, und so ward Gil-galad erschlagen: und erhitzte man das Gold, so würde vielleicht die Schrift erfrischet. Doch ich für mein Teil werde nichts tun, was diesem Dinge, so das einzig schöne ist von Saurons Werken, könnte zum Schaden gereichen. Teuer ist es mir, obwohl mit großem Schmerz erkaufet.«
Gandalf machte eine kurze Pause, »Als ich diese Worte las, war ich am Ziel meiner Suche. Denn die Sprache der abgezeichneten Inschrift war in der Tat, wie Isildur erraten hatte, die Sprache, die von den Dienern des Turms in Mordor gesprochen wird. Und was die Inschrift besagte, war schon bekannt. Denn an dem Tag, als Sauron den Einen zum ersten Mal aufsteckte, gewahrte ihn von fern Celebrimbor, der die Drei geschmiedet hatte, und hörte ihn diese Worte sprechen, die seine bösen Absichten preisgaben. Sogleich nahm ich Abschied von Denethor, doch als ich nach Norden ging, erreichten mich Nachrichten aus Lórien, dass Aragorn dort gewesen war, und dass er die Kreatur namens Gollum gefunden hatte. Daher beeilte ich mich, zuerst ihn aufzusuchen, um zu hören, was er zu berichten hatte. Welchen Gefahren er sich allein ausgesetzt haben musste, wagte ich nicht zu denken.«
»Unnötig, viel davon zu reden«, sagte Aragorn, »Wer gezwungen ist, sich in Sichtweite des Schwarzen Tors zu begeben oder zwischen die giftigen Blumen des Morgultals, dem wird es an Gefahren nicht mangeln. Auch ich hatte schließlich genug davon und machte mich auf den Heimweg. Und dann, durch schieres Glück, stieß ich auf das, was ich suchte: Abdrücke von weichen Platschfüßen an einem schlammigen Teich. Die Spur war noch frisch und verriet eine schnelle Gangart und sie führte nicht nach Mordor, sondern nach Norden. Ich folgte ihr um den Rand der Totensümpfe herum, und dann hatte ich ihn. An einem Sumpftümpel, wo er lauernd ins Wasser spähte. Als es Abend wurde, da erwischte ich ihn, Gollum. Er war mit grünem Schleim beschmiert. Mein Freund wird er nie werden, fürchte ich, denn er biss mich, und auch ich wurde unsanft. Aus seinem Munde bekam ich nichts heraus als die Spuren seiner Zähne. Dies schien mir der schlimmste Teil meiner Fahrt zu sein, der Rückweg: Tag und Nacht kein Auge von ihm lassen, ihn geknebelt und mit einem Strick um den Hals vor mir hertreiben, bis Hunger und Durst ihn zähmten, immer in Richtung auf den Düsterwald zu. Endlich hatte ich ihn so weit gebracht und übergab ihn den Elben, denn so hatten wir es verabredet. Und ich war froh, ihm nicht länger Gesellschaft leisten zu müssen, denn er roch übel. Für mein Teil hoffe ich, ihn nie wiederzusehen, aber dann kam Gandalf und erduldete ein langes Gespräch mit ihm«, erzählte der Waldläufer und so fiel sein Blick kurz auf Legolas und mich. Mitbekommen, wie Aragorn Gollum uns ausgeliefert hatte, hatte ich nicht, da ich an diesem Tag an einer Ausschreitung teilgenommen hatte. Legolas hatte mir jedoch von dem Waldläufer erzählt und was danach geschah.
So sprach nun wieder Gandalf: »Ja, ein langes und mühsames Gespräch, doch kein unnützes. Immerhin stimmte die Geschichte, die er über seinen Verlust erzählte, mit der überein, zu der sich Bilbo heute zum ersten Mal offen bekannt hat; doch das war nicht allzu wichtig, denn ich hatte es schon erraten. Aber nun erfuhr ich zum ersten Mal, dass der Ring am Großen Strom in der Nähe der Schwertelfelder gefunden worden war. Und ich erfuhr, dass Gollum ihn lange besessen hatte, über viele Lebzeiten seiner kleinen Art. Die Macht des Ringes hatte seine Jahre weit über die gewöhnliche Zahl hinaus verlängert. Und diese Macht steckt nur in den Großen Ringen. Und wenn dir dieser Beweis nicht genügt, Galdor, so bleibt noch die Probe, von der ich schon sprach. Auf ebendiesem Ring, der, wie ihr gesehen habt, als Frodo ihn hochhielt, glatt und unverziert war, sind die von Isildur aufgezeichneten Lettern noch immer zu lesen, wenn einer die Willensstärke besitzt, die es erfordert, diesen goldenen Ring eine Weile ins Feuer zu legen. Das hab' ich getan, und dort stand zu lesen:

Lithil - gwend en lóre | Legolas Ff ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt