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Ihrem ersten Mord folgten weitere, kaum zwei Tage nach der ersten Tat ermordete sie Geschwister, die sie beide gequält haben. Der Junge war damals schon Drogendealer gewesen, das Mädchen war eine Schlampe. Ihr Erwachsenwerden hatte nichts an dieser Tatsache geändert. Sie sahen sich beide gegenseitig sterben und konnten nichts tun, um das zu verhindern. Dann rächte sie sich an den ganzen Freunden des Mannes, an dem sie sich als erstes gerächt hatte. Sie nahm Freundinnen und Lebensgefährtinnen, eine kleine Schwester und einem der Männer nahm sie das Leben. Es ging nicht anders, es war das, was sie tun musste. Es hatte keine andere Lösung gegeben und sie hatte es versucht. Sie hatte es wirklich versucht. Aber sie hatte es nicht gekonnt.

Als nächstes auf ihrer Liste stand ein übergewichtiger Mann, der schon seit der Grundschule in ihrer Klasse gewesen war. Auch seine Freunde würden folgen, aber erst nach ihm. Später, wenn sie an der Reihe waren. Bei ihm hatte sie keinen Menschen gefunden, dem sie ihm mit dem gewünschten Effekt wegnehmen konnte. Stattdessen würde sie sich seiner größten Angst bedienen und ihn in einer engen Kiste lebendig begraben. Er würde qualvoll unter der Erde ersticken, mit auf den Rücken gefesselten Händen. Das Loch in der Erde war schon gegraben, sein Sarg schon in dem Loch platziert. Sie musste ihn nur noch einsammeln und in das Loch werfen, dann würde auch er nicht mehr ihr Problem sein.

Ihn fing sie auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle ab; es war nicht viel aus ihm geworden. Sie wusste nicht, ob er sein Abitur bestanden hatte oder nicht, aber das spielte auch eigentlich keine Rolle. Er würde den Tag nicht überleben, also war so etwas vollkommen irrelevant. Und dann sah sie ihn an, zum ersten Mal seit verdammt langer Zeit sah sie ihn direkt an. Und dann war da wieder diese Angst, diese Unsicherheit. Diese Angst vor dem verdammten Mistkerl, der ihr all das angetan hatte. So eine verdammte Angst. Und sie konnte nichts an dieser Angst ändern, jetzt hatte die Angst die Kontrolle über sie. Doch sie wusste, dass sie es irgendwie schaffen musste, ihren Plan durchzuziehen. Wenn sie jetzt aufgab, dann würde es niemals vorbei sein. Nicht für sie. Sie wusste nicht, wie sie es schaffen sollte, aber sie musste jetzt irgendwie dadurch. Und dann nichts mehr. Sie ließ den Elektroschocker sinken, drückte das Gaspedal nicht voll durch, überfuhr ihn nicht. Sie kommte es nicht, das wurde ihr erst klar, als sie ihm gegenüberstand, mit der Absicht ihn zu töten. Sie konnte es nicht. Sie würde nichts weiter tun können. Ihren Plan nicht fortsetzen können. Sie konnte es nicht. Und bei keinem der weiteren Namen auf ihrer Liste hatte sie eine bessere Chance. Zu ihrer allgemeinen Unsicherheit kamen auch noch Zweifel an der wirklichen Schuld der Leute. Die letzten Namen auf dieser Liste waren die von Menschen, die sie um Hilfe gebeten hatte und die ihr diese Hilfe verwehrt hatten. Rechtfertigte das einen Mord? Sie wusste, dass dem nicht so war. Ein letzter Blick auf den Mann, der vor ihr stand. Sie hasste ihn, hasste ihn wirklich. An seiner Schuld bestand kein Zweifel. Sie wusste ganz genau, wer er war und was er getan hatte. Ihr über Jahre hinweg angetan hatte.

Aber sie konnte es nicht. Grade wegen dem, was er getan hatte, konnte sie es nicht. Weil er immer noch dazu führte, dass sie erstarrte und sich nicht mehr wehren konnte. Wegen all dem, was er zu ihr gesagt und ihr angetan hatte. Er hatte immer noch Macht über sie. Und sie würde es nicht schaffen, ihn zu töten. Aber in dem Moment, in dem sie den Elektroschocker sinken ließ, wusste sie auch gar nicht mehr, ob der Mord an ihm es besser gemacht hätte. Denn es wurde nicht leichter, bei den anderen wurde es nicht leichter. Sie tauchten weiter auf, geisterten durch ihre Träume, hinderten sie am Einschlafen, am Durchschlafen. Machten ihr das Leben zur Hölle. Und sie konnte nichts dagegen tun. Vielleicht war Mord der falsche Ansatz gewesen, sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie nicht weitermachen konnte. Dass heute der Punkt erreicht war, an dem sie nicht mehr weitermachen konnte. Es würde vorbei sein, nicht für sie, aber für alle anderen.

Für sie war es vielleicht niemals vorbei. Es würde niemals vorbei sein. Aber sie hatte etwas gelernt, hatte etwas verstanden. Vielleicht konnte sie damit nicht abschließen, es vergessen und für immer einfach hinter sich lassen. Vielleicht musste sie einfach lernen, damit umzugehen und es hinzunehmen. Und mit dieser Überlegung wandte sie ihm endgültig den Rücken zu. Und damit auch ihrer Vergangenheit.

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