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„Woran denkst du?", fragte Leo nach einer Weile.
„Ach", antwortete Kilian. „Die Apokalypse. Erwartungen und Realität. Warum du nicht mit mir redest."
Leo sah ihn überrascht an.
„Oh ... tut mir leid", sagte sie. „Das ist gar nicht böse gemeint, nur ... ich weiß nicht. Ich habe Angst, dass ich mich weniger konzentriere, wenn wir uns unterhalten. Aber ... wenn du dafür wachsamer bist, können wir gerne reden. Ich hab nichts dagegen."
„Ist schon gut, das war gar nicht als Vorwurf gemeint", entschuldigte sich Kilian. „Wie gesagt ... ich habe nur darüber nachgedacht. Vielleicht hast du auch Recht und wir sollten uns konzentrieren."
Vorsichtig legte Leo ihm eine Hand auf den Arm.
„Hey", sagte sie. „Wirklich. Ich hatte bisher immer alleine Wache und ein Mal mit Balu. Und mit ihm habe ich auch nicht viel geredet. Aber ich fände es schön, wenn wir uns mit Gesprächen ein wenig die Zeit vertreiben würden."
Kilian lächelte flüchtig.
„Entschuldige, wenn ich komisch bin ... es ist nur ... die Mutter der Kleinen ..."
„Es musste sein", erwiderte Leo leise.
„Aber das macht es nicht besser. Weißt du ..." Er zögerte. „Meine Mutter. Bei ihr musste ich das gleiche tun."
Leo wusste nicht, was sie sagen sollte. Was konnte man dazu überhaupt sagen? Sie warf einen Blick nach draußen und beschloss, dass es sicher genug war, um ein wenig unaufmerksamer zu sein.
Dann rutschte sie näher zu Kilian, legte einen Arm um ihn und ihren Kopf an seine Schulter, in der Hoffnung, dass es ausreichend war.
Kilian zog Leo etwas dichter zu sich und hielt sie fest. Es war schwer, in solchen Momenten ruhig zu bleiben, wenn die Erinnerungen wieder zu stark wurden, doch Leos Nähe half ihm dabei.
„Jemand, in den ich verliebt war", sagte sie leise. „Ich hab's nicht geschafft. Er war allein. Ich hätte rausgehen und es beenden können, aber ... ich hab's nicht getan. Ich hatte zu viel Angst. Genauso, wie ich zu viel Angst hatte, ihm zu sagen, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Was wäre gewesen, wenn ich es ihm gesagt hätte? Vielleicht hätte er die Gefühle ja erwidert, vielleicht wären wir an dem Tag zusammen gewesen ... vielleicht hätte ihn das retten können. Oder ich hätte es beendet, falls nicht. Vielleicht wäre er mit mir gemeinsam zu Lilli aufgebrochen, schon viel früher. Daran muss ich jeden Tag denken. Ich bewundere dich dafür, dass du deiner Mutter diesen letzten Dienst erweisen konntest, so grauenvoll es klingt. Aber ich bin sicher, dass es das Richtige war."
„Das versuche ich mir auch die ganze Zeit einzureden", murmelte Kilian. „Aber das macht den Schmerz und die Schuldgefühle nicht besser. Was soll ich zu meinem Bruder sagen, falls er noch leben sollte? Er wird mich hassen ... er hat unsere Mutter geliebt ..."
„Kili", sagte Leo sanft und nahm seine Hand. „Du hast sie auch geliebt. Du liebst sie immer noch. Das ist ein Gefühl, das den Tod überdauert. Deswegen tut es so weh. Du leidest schon genug, bitte mach dich mit deinen Vorwürfen nicht auch noch selbst kaputt. Das hast du nicht verdient."
„Du weißt doch überhaupt nicht, was ich verdient habe!", rief Kilian und sprang auf. „Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wer ich bin, was ich getan habe!"
Leo war erschrocken zurückgewichen und schaute jetzt ängstlich nach draußen, ob Kilians Ausbruch die Aufmerksamkeit der Wesen auf sie gelenkt hatte.
Dieser kurze Moment war es, den Kilian nutzte, um zu verschwinden.
Balu und Fabian, die beide von dem Tumult aufgewacht waren, hörten nur noch, wie die Tür ins Schloss fiel.
„Was ist passiert?", fragte Stella verunsichert und lief zu Leo. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass sie bei Balu geschlafen hatte.
„Ich ..." Sie konnte es selbst nicht sagen. „Ich weiß es nicht, Stella. Kilian ist fortgelaufen."
„Dieser Idiot!", fluchte Balu. „Was denkt der sich dabei?"
Leo fing sich langsam wieder. Sie gab Stella in Fabians Obhut und sah dann Balu an.
„Ich gehe ihm nach", sagte sie. „Ihr beiden könnt besser auf Stella aufpassen als ich." Dann holte sie tief Luft. „Wenn ich bis morgen Abend nicht zurück bin ... bitte ... tut mir den Gefallen und geht für mich weiter Richtung Köln. Findet Lilli für mich. Sagt ihr, dass ich sie unglaublich lieb gehabt habe, wie eine kleine Schwester. Und dass es mir leid tut, nicht früher und nicht persönlich gekommen zu sein."
Leo ging zu ihrem Rucksack und kramte ein Bild hervor.
„Das ist sie", sagte sie und drückte es Balu in die Hand, gefolgt von einem kleinen Eulenanhänger. „Wenn du ihr den gibst, weiß sie, dass ihr Freunde seid. Okay?" Sie sah die Brüder an, dann Stella. „Ich hoffe, wir sehen uns wieder ... mit Kilian. Und du, Spätzchen, bleibst schön bei den beiden, ja?" Sie strich dem Mädchen über die Haare. „Sie passen auf dich auf."
Stella begann zu weinen und klammerte sich an Leos Bein.
„Wenn du da raus gehst, wirst du genauso wie meine Mama! Das will ich nicht!"
Leo warf Fabian einen hilflosen Blick zu, der sofort verstand und Stella in die Arme nahm, wo sie weiter weinte.
Balu sah Leo an.
„Soll ich dich begleiten?", fragte er. „Ehrlich gesagt halte ich von solchen Kamikaze-Aktionen nicht besonders viel."
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich komme klar", versprach sie. „Irgendwie. Wenn ich nicht zurückkomme, muss ich wissen, dass Lilli in guten Händen ist. Das ist das einzige, worum ich euch bitte. Macht's gut, ihr zwei. Bis dann, hoffe ich."
Leo umarmte die beiden flüchtig, strich Stella noch einmal über die Haare und verschwand dann nach draußen in die Nacht. Ihren Rucksack hatte sie im Haus gelassen, der würde sie nur behindern.

Wecke nicht die Toten: Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt