Vielle-Brioude
"Ich werde diesem Arschloch den Hals umdrehen, wenn ich jemals wieder nach Avignon komme!"
Lou trat kräftig mit ihrem rechten Fuß gegen die Fahrertür. Nicht mal ein Kratzer blieb zurück, doch sie verzog schmerzhaft das Gesicht.
Yves stand einfach nur daneben und begutachtete das hellblaue Auto, das sie schon nach zwei Tagen im Stich gelassen hatte. Doch er nahm die Panne erstaunlich gleichgültig entgegen. Seit gestern Abend waren seine Gedanken auf Hochtouren und drehten sich die ganze Zeit im Kreis. Es war ein ermüdender Vorgang.
War es richtig? Hätte er Lou eine Chance geben sollen? Hatte er zu früh 'nein' gesagt? Oder zu spät? Was sollte er jetzt machen?
So viele Fragen und so wenig Antworten.
Er hatte aus einem inneren Bauchgefühl heraus gehandelt. Es hatte sich gut angefühlt. Das Küssen, ihre Hände, das alles. Aber tief in ihm drin, hat ihm etwas gesagt, dass es falsch war. Er hatte in Lous Augen geschaut und dort war nichts außer Lust. Und er hatte gewusst, dass er ihr mit der Stillung ihrer Bedürfnisse nicht helfen würde. Und sich auch nicht.
Warum?
Das konnte er auch nicht sagen. Aber wenn man ein Bauchgefühl hat, dann muss man auch darauf hören. Oder?
Yves ließ sich an der linken Seite des Vans heruntergleiten und spürte das kalte Blech im Rücken, als er auf dem Boden saß.
Scheiß Leben.
Er hatte beschlossen, einfach so zu tun, als wäre nichts geschehen. Sie könnten ja Freunde werden? Ging das überhaupt?
Verzweifelt vergrub er seinen Kopf in den Händen und unterdrückte ein Aufseufzen. Es gab keine perfekte Lösung.
"Trübsal zu schieben, hilft auch nicht, cheri." Er schaute auf und sah Lous Gestalt vor ihm. Ihre Arme waren verschränkt und ein paar Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, fielen ihr spielerisch ins Gesicht.
"Beulen ins Auto treten auch nicht, cariño."
Sie atmete einmal schwer ein. Doch anstatt sich ihrem nächsten Wutanfall hinzugeben, ließ sie sich neben ihn auf den harten Boden fallen. Mit zwei Metern Abstand.
"Was sollen wir deiner Meinung nach dann machen?"
"Warten."
Lou lachte auf und legte den Kopf in den Nacken. "Auf was? Ein scheiß Wunder?"
"Nein, aber auf die nächste freundliche Person, die diese Straße passiert."
"Wie sind im fuckin' Nirgendwo. Es wird Stunden dauern, bis irgendjemand vorbeikommt."
"Dann warten wir eben." Yves fokussierte weiter den kleinen Feigenbaum am Rand eines Feldes und seine Gedanken schweiften ab. Lou und er kannten sich nicht mit Autos aus, ein Handy hatten sie auch nicht und sie konnten schließlich nicht nach Paris laufen.
Seine Reisegefährtin sagte nichts mehr.
Es entstand eine unangenehme Stille. Er hätte die letzten Tage mehr genießen müssen. Da war alles noch so unkompliziert.
Nachdem die ersten zwei Autos an ihnen vorbeigefahren waren, entschieden sie sich zu winken, sobald jemand vorbeikam.
In Filmen sah das alles sehr viel leichter aus, als es in der Realität war. Es machte beinahe den Eindruck, dass die Autos extra schnell an ihnen vorbeifuhren, sodass der Staub und Dreck vom Boden aufgewirbelt hatte und spätestens, als der erste Autofahrer, sein Fenster herunterließ und sie anspuckte, vermutete Yves warum.
Seine Hautfarbe hatte ihm in Marseille und auch in Paris meistens keine Probleme gemacht. Hier auf dem Land sah das allem Anschein nach anders aus.
Nur weil sein Vater Marokkaner und seine Mutter Spanierin war, mussten sie jetzt hier verrotten? Yves schloss kurz die Augen und hätte sich gerne weiß gewünscht. Augenblicklich schüttelte er den Kopf. Er war stolz auf seine Herkunft. Er sollte so etwas nicht denken.
Lou schien das Ganze gar nicht mitzubekommen. Aber sie war ja auch weiß. Wahrscheinlich wusste sie noch nicht einmal von der Diskriminierung und dem Rassismus.
Scheiß Welt.
Er schloss erneut die Augen und dämmerte in der warmen Nachmittagssonne etwas weg, als Lou plötzlich von der Motorhaube heruntersprang und mit zwei Fingern den Grashalm zwischen ihren Lippen herauszog. Yves schaute sich verwirrt um, als ihm das Auto auf der anderen Straßenseite auffiel.
Aus dem blauen Truck stieg eine zierliche Asiatin, die sie anlächelte und winkte, bevor sie die Autotür hinter sich zuschlug. Nach einem prüfenden Blick nach rechts und links überquerte sie die Straße.
"Hey ihr beiden Süßen!" Ein süßer Singsang begleitete ihre Worte, was sie gleich sympathischer wirken ließ. Yves lächelte.
"Hallo, Madame-", begann Yves und schaute sie dann fragend an.
"Bleu. Ich bin Madame Bleu." Sie streckte ihm die Hand entgegen, die Yves ergriff.
"Schön Sie kennen zu lernen!" Er holte Luft, um sich ebenfalls vorzustellen, als Lou ihm ins Wort fiel.
"Ich bin Simone und das hier ist Paul." Sie nickte mit ihrem Kopf kurz in seine Richtung und streckte ebenfalls ihre Hand aus. "Wir sind auf dem Weg nach Lyon – Verwandtschaftsbesuch nach den Flitterwochen. Und jetzt ist leider unser Auto kaputt gegangen und der Empfang ist hier wirklich schlecht."
Lou lachte gekünstelt auf und schaute Yves an. Ihr Blick sagte quasi: "Wenn du jetzt nicht mitspielst und die Klappe hältst, wirst du später Filet sein". Und da er darauf nur sehr geringfügig Lust hatte, lächelte er lediglich in Madame Bleus Richtung und ergriff Lous kalte Hand. Ihre Schwielen kratzten an seiner weichen Haut. Er fragte sich, weswegen Lou der netten Frau nicht vertraute und ihre richtigen Namen nannte.
"Na dann komme ich ja gerade richtig! Gleich hier in der Nähe gibt es eine gute Autowerkstatt. Und mit ein bisschen Glück, könnt ihr morgen schon weiterfahren."
"Das ist ja wundervoll! Können Sie die Werkstatt vielleicht anrufen und wir kümmern uns noch um eine Unterkunft?" Yves Worte begleitete ein Lächeln.
"Aber natürlich meine Lieben! Ihr könnt ruhig auch bei mir übernachten. Ich habe schon seit Jahren keinen Besuch mehr bekommen!" Madame Bleus Augen funkelten begeistert.
"Dieses Angebot können wir natürlich nicht abschlagen", lachte Yves und ignorierte Lous warnendes Händedrücken.
"Dann steigt doch schon einmal ein, meine beiden Turteltäubchen. Ich bin gleich bei euch." Sie drehte sich um und kramte ihr Handy aus ihrer Designerhandtasche. Die Jugendlichen gingen derweilen zu ihrem Auto. Yves zog verwirrt die Augenbrauen zusammen, als er Lous mürrischen Ausdruck wahrnahm. Dieses Mädchen musste mal jemand verstehen.
Wenig später stieg auch ihre Retterin ein. "Es ist alles geregelt. Henri kommt sobald wie möglich vorbei und nimmt euer Auto mit. Er wird morgen früh noch einmal anrufen und uns Einzelheiten erklären, aber bis dahin, machen wir uns einen schönen Abend. Ihr müsst mir alles über eure Flitterwochen erzählen! Wo genau wart ihr denn?"
Während ihrem Monolog hatte sie sich angeschnallt, die Autotüre geschlossen und den Mittelkonsole-Spiegel verrückt, sodass sie Yves auf der Rückbank anschauen konnte.