Lestrade POV

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Mycroft kam früher nach Hause, als ich erwartet hatte. Normalerweise hätte ich mich über diese Tatsache gefreut, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas überhaupt nicht mit ihm stimmte.
Ich wusste, dass Mycroft kompliziert war, wenn es um seine Gefühle ging und darum, diese jemandem mitzuteilen. Aber ich war schließlich nicht bloß irgendjemand.
Vorsichtig ließ ich mich neben Mycroft an dem großen Holztisch nieder. Mycroft wirkte ziemlich verloren, so wie er dort am Kopfende saß und nachdenklich seinen Tee umrührte.
"Ich seh doch, dass dich etwas bedrückt", fing ich leise an.
"Wenn du mir sagst, was los ist, könnte ich dir doch vielleicht helfen"
Mycroft verdrehte die Augen und lachte spöttisch.
"Wie kommst du darauf, dass du mir helfen könntest?", fragte er in einem so verächtlichen Ton, dass ich nichts anderes tun konnte, als ihn fassungslos anzustarren.
"Ich weiß nicht wie ich darauf komme, Mycroft", gab ich verletzt zurück. "Vielleicht weil ich als dein Freund versuche, für dich da zu sein. Wenn du mich denn lassen würdest"
Meine Stimme wurde zunehmend lauter.
"Ich brauche eben niemanden, der mir hilft", entgegnete Mycroft kühl.
"So funktioniert das aber nunmal in einer Beziehung", erklärte ich gereizt.
"Achja? Bist du neuerdings der Beziehungsprofi?", konterte er unwirsch und musterte mich mit einem reservierten Blick.
Meine Unterlippe bebte.
Wie konnte Mycroft nur so etwas sagen?
Die Tränen traten mir in die Augen und ich blinzelte, um bloß nicht zu weinen.
"Es stimmt wohl doch, was die Leute über dich sagen", rief ich und wandte mich zum Gehen. "Du bist und bleibst ein verdammter Eisklotz!"
Mit diesen Worten schnappte ich mir meine Jacke, knallte die Tür beim Verlassen des Hauses hinter mir zu und lief zu meinem Wagen.
Auf dem Weg bemerkte ich jedoch, dass ich meine Autoschlüssel auf der Küchentheke hatte liegen lassen.
"Verdammt!", rief ich und hätte rasend vor Wut am liebsten auf mein Auto eingedroschen.
Doch mein grauer Dienstwagen hatte schon so einiges mitmachen müssen, also versuchte ich mich zu beherrschen und machte mich zu Fuß auf den Weg in die Stadt.
Als ich in meiner Stammkneipe angekommen war, war mein ganzer Ärger bereits nahezu verpufft.
Viel größer war ohnehin die Sorge um Mycroft.
Auch wenn er mich zugegebener Maßen wirklich verletzt hatte, würde ich wohl mit ihm reden und unseren Streit klären müssen.
Als mir bewusst wurde, dass dies unser erster Streit war, seit Mycroft mir seine Liebe gestanden hatte, tat es mir umso mehr leid, dass ich einfach gegangen war.
Mycroft war vielleicht nicht der umgänglichste Mensch, doch wir hatten bereits so vieles gemeinsam durchgestanden. Da sollte so ein Streit doch kein zu großes Hindernis darstellen.
Mit neuer Zuversicht verließ ich die Bar einige Minuten später und bestellte mir ein Taxi.

Als ich zu Hause ankam, fand ich Mycroft zeitunglesend auf dem Sofa wieder.
Ich räusperte mich, woraufhin er aufblickte.
"Du bist wieder da", bemerkte er sachlich und faltete die Zeitung zusammen, um sie anschliend auf einen ordentlichen Stapel mehrerer anderer Zeitungen auf dem Couchtisch zu legen.
"Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe. Ich war vielleicht etwas zu aufgebracht", erklärte ich ruhig.
"Nein", antwortete Mycroft. Irritiert blinzelte ich ihn an.
"Du hattest Recht, mit allem, was du gesagt hast."
Er blickte zu Boden. "Vielleicht bin ich zu abweisend zu dir gewesen. Es ist nur eben einfacher ein Eisklotz zu sein..."
Ich schmunzelte.
"Ich weiß"
Fragend deutete ich neben ihn auf das Sofa. "Darf ich?"
Mycroft nickte.
"Ich verlange nicht von dir, dass du mir immer alles erzählst", erklärte ich. "Aber du musst nicht alles mir dir selbst ausmachen. Und wenn dich etwas belastet, dann bereitet es mir ebenfalls Sorgen." Ich blickte Mycroft in die Augen. "Weil du mir wirklich sehr viel bedeutest"
Auf Mycrofts Gesicht erschien ein zaghaftes Lächeln.
"Ich liebe dich, Greg", flüsterte er und beugte sich zu mir herüber, sodass unsere Gesichter nur noch einige Zentimeter voneinander entfernt waren.
"Ich dich doch auch", antwortete ich und legte meine Lippen auf seine.

"Worum ging es denn jetzt, in deinem Gespräch mit Sherlock?", hakte ich vorsichtig nach.
Mycroft seufzte.
"Um einen Fall, der Sherlock eigentlich gar nichts angehen sollte", murmelte er. "Genau genommen ist das eine Angelegenheit des Secret Service. Doch mein Bruder hat wohl Wind von der Sache bekommen und meinte, sich mal wieder einmischen zu müssen"
Mycroft verdrehte die Augen, ich hingegen konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Das war mal wieder typisch für Sherlock Holmes.
"Offenbar wurde gestern ein lange Zeit gesuchter Finanzbetrüger verhaftet. Ihm werden Geldfälschung, etliche illegale Handelsgeschäfte und neuerdings das Verschwinden von mehreren Milliarden Euro der britischen Regierung vorgeworfen", erklärte Mycroft - ganz in seinem Element.
Dann trat ein Ausdruck in seine Augen, den ich noch nie bei ihm gesehen hatte und auch nicht wirklich deuten konnte.
"Anscheinend will dieser Kriminelle jedoch keine Aussage tätigen - was der Regierung natürlich überhaupt nicht gefällt."
Mycroft holte tief Luft.
"Es sei denn ich würde ihn befragen"

Mystrade - One Call Away (Sherlock)Where stories live. Discover now