Kapitel 6

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"Oh Gott, ich sehe ja schrecklich aus.", murmelte ich erschöpft, als ich einen prüfenden Blick in den Rückspiegel meines Autos warf. So konnte ich auf keinen Fall meiner Mutter unter die Augen treten! Sie würde sich nur unnötig Sorgen machen. Entschlossen wischte ich mir mit einem feuchten Taschentuch die schwarzen Mascara Reste unter den Augen weg, überschminkte meine rote Nase mit ein wenig Concealer und hoffte einfach darauf, dass meine Mutter keinen Verdacht schöpfen würde. Ich atmete noch einmal tief durch und versuchte die wirbelnden Gedanken in den hintersten Winkel meines Kopfes zu verbannen. Doch sobald meine Gedanken auch nur zu Remys Worten zurückglitten, stiegen erneut Tränen in mir hoch. Ungewollt hatte er mir gezeigt, wie sehr ich doch meinen Vater vermisste. Wie sehr ich seine brennende Liebe zum Hockeysport vermisste, die gemeinsamen Abenden in der Eishalle, als wir unser Lieblingsteam anfeuerten und bei jedem Spiel mitfieberten. Aber vor allem vermisste ich die wohlig warmen Umarmungen, in denen ich mich immer so geborgen gefühlt hatte, seine Ratschläge und die Gewissheit, dass er immer für mich und meine Familie da sein würde. Uns immer beschützen würde.
Erstickt holte ich Luft, als ich mich aus meinen melancholischen Gedanken riss. Zitternd wischte ich die Tränen weg, die mir erneut in den Augen standen. Ich gab mir einen Ruck, stieg aus meinem Auto und öffnete mit bebenden Fingern die Haustür. "Mom, ich bin wieder zu Hause.", rief ich in gespielt fröhlichem Tonfall, sobald die Haustür hinter mir ins Schloss gefallen war. "Perfektes Timing! Maddie muss nur noch den Tisch decken, dann können wir auch schon essen!", kam prompt ihre Antwort. Ich folgte dem warmen Klang ihrer Stimme und spähte in die Küche. Meine Schwester deckte den Tisch, während meine Mutter in einem dampfenden Topf rührte. "Danke, aber ich habe keinen Hunger. Ich bin ziemlich müde und werde mich ein wenig hinlegen." Besorgt wandte sich meine Mutter vom Herd ab, um mich kritisch zu begutachten. Bestimmt entging ihr meine betrübte Stimmung nicht. "Alles okay bei dir?", hakte sie beunruhigt nach. "Ja, es war nur ein ziemlich... stressiger Arbeitstag. Beim Nachmittagstraining hat sich heute jemand blöd verletzt und fällt wahrscheinlich für längere Zeit aus. Da war die Aufregung im Team ziemlich groß.", erklärte ich. "Oh, wie schrecklich!", murmelte meine Mutter betroffen, während Maddie mich nur schweigsam musterte. Ob sie mir ansah, dass ich ziemlich untertrieben hatte? "Ich werde sofort das Rezept für meinen Apple Pie raussuchen. Dann erholt sich der arme Junge bestimmt schnell wieder.", murmelte meine Mutter, während sie bereits in der Lade mit den Rezepten zu wühlen begann. Ach, Helen Hughes und ihr unabstellbares Helfersyndrom... "Danke, Mom.", lachte ich und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange. Ich liebte die führsorgliche Art meiner Mutter, die bedingungslose Hilfsbereitschaft. Ich wollte ihr aber nicht gestehen, dass Brodie weder ein armer Junge war, noch den - nicht gerade kalorienarmen - Apple Pie essen durfte. Dem strikten Ernährungsplan sei Dank.

Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen und vergrub den Kopf tief in meinen flauschigen Zierkissen. Nach einem kurzen Moment, in dem ich mir gestattet hatte mich in meinem Selbstmitleid zu suhlen, rappelte ich mich hoch und wählte die Nummer meiner besten Freundin. Bereits nach dem zweiten klingeln schallte ein fröhliches "Hallöchen" aus meinem Smartphone. "Vergiss was ich jemals über Remy Graham gesagt habe! Er ist nicht heiß, er ist ein frauenfeindliches Arschloch, mit der Einstellung eines mittelalterlichen Bauern!", knurrte ich gereizt ins Telefon. "Wow, was hat der Typ den bloß angestellt, dass du so sauer bist?", murmelte Olivia erstaunt, forderte mich aber sofort auf, ihr alles zu erzählen.
"Und dann bin ich wütend rausgelaufen und habe im Auto angefangen zu heulen, wie ein kleines Kind.", endete ich seufzend meine Erzählung und wartete gespannt auf Olivias Reaktion. Während meiner Erzählung war sie so still gewesen, dass ich teilweise schon befürchtet hatte, dass die Verbindung abgebrochen war. "Was für ein Arschloch!", entfuhr es Olivia entsetzt, wobei ich ihren schockierten Gesichtsausdruck vor meinem inneren Auge sehen konnte. Ich brachte lediglich ein wütendes brummen zustande. "Und was wirst du jetzt machen?", hakte Olivia sanft nach, nachdem ich in ein gedankenverlorenes Schweigen verfallen war. Unschlüssig zuckte ich mit den Schultern, obwohl sie meine Geste nicht sehen konnte. Erschöpft seufzte ich: "Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Ich habe keinen Bock eine große Szene daraus zu machen." "Dann hak den Vorfall ab und konzentriere dich auf deinen Job. Denn den machst du großartig, egal was so ein verkniffener Anzugschnösel behauptet.", bei Olivias aufmunternden Worten stahl sich sofort ein Lächeln auf meine Lippen. Sie war so ein einfühlsamer Mensch und wusste immer genau, wie sie mich am besten aufmuntern konnte. Nur ein Grund dafür weshalb ich sie vor vier Jahren so schnell in mein Herz geschlossen hatte. Olivia heiterte mich noch mit einer Erzählung über einen Uni Kommilitonen auf, ehe wir uns bald verabschiedeten, da ich einfach ausgelaugt war. Obwohl mich die bleierne Müdigkeit förmlich niederzwang, kehrten die wirbelnden Gedanken zurück, sobald ich das Gespräch mit Olivia beendet hatte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 04, 2020 ⏰

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