Kapitel 16: Endlich

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Astrid

Ich konnte nicht schlafen. Natürlich nicht. In den letzten Wochen war Schlaf für mich zu einem Fremdwort geworden, so als wolle mein Körper den Überschuss der Zeit davor ausgleichen. Lediglich eine seltsame Starre hatte meine Glieder befallen und fesselte mich an den Boden. Vielleicht hätte ich mich von ihr lösen können, wenn ich gewollt hätte. Doch ich wagte nicht zu offenbaren, dass ich die ganze Zeit wach gewesen war, jedes einzelne Wort der geflüsterten Unterhaltungen gehört hatte. Schäbig wäre ich mir vorgekommen, von ihren Reaktionen ganz zu schweigen. Also lauschte ich weiterhin in die Dunkelheit, hangelte mich an den Worten entlang, klaubte einzelne Satzfetzen auf, deren Bedeutung immer mehr aus ihnen heraussickerte, bis sie nur noch leere Hüllen waren. Sinnlos aneinandergereihte Töne, die genau dadurch ihre betörende Wirkung entfalteten. 

"Astrid."

Jemand rüttelte meine Schulter.

"Du bist dran."

Schlagartig fielen die Bänder von mir ab, das Blei in meinen Adern begann zu brodeln, zu dampfen. Ich stemmte mich hoch und nickte dem herzhaft gähnenden Rotzbacke zu.

"Leg dich hin, ich mach das schon."

Auch er nickte, ernsthafter als ich es ihm jemals zugetraut hätte, angelte sich ein letztes Stück Käse und streckte sich auf dem Boden aus.

"Astrid?"

"Hm?"

"Ich..." Er biss auf seine Unterlippe. "Ach, vergiss es." Dann stopfte er sich den Käse in den Mund und rollte auf die andere Seite.

Wahrscheinlich hätte ich etwas erwidern sollen, aber ich wusste nicht, was. Also nuschelte ich lediglich ein "Gute Nacht". Innerhalb weniger Minuten schnaufte er gleichmäßig und tief. Zwei-, dreimal vergewisserte ich mich, dass sowohl er als auch alle anderen schliefen, dann rückte ich näher an Liska heran.

"Du brauchst Informationen."

"Und ich habe sie", hing unüberhörbar im Raum.

"Ich wusste gar nicht, dass ich es mit einer Rebellin zu tun habe."

"Mir geht es bloß um meine Rache."

"Rache? Und weswegen?"

Ihr Tonfall sagte deutlich, dass es sie nicht kümmerte. 

"Sie ist schuld am Tod von Hicks."

"Und das ist ...?"

Desinteresse waberte durch den Raum. Gab es etwas, das diese Frau nicht kalt ließ? Wahrscheinlich nicht. Dennoch redete ich weiter, quetschte die Wörter durch meine Lippen.

"Er war mein ..."

Mein was? Was war er für mich gewesen? Mein Freund bestimmt nicht, das hatte meine Feigheit verhindert. Aber auch nicht nur ein  Freund. Dazu war das Band zwischen uns zu tief. Gewesen. Zu tief gewesen. Wie anders hätte es sein können, hätte ich nur ein einziges verfluchtes Mal den Mut aufgebracht, ihm meine Gefühle zu gestehen! Dumm und feige war ich gewesen, hatte damit gerechnet, noch ein ganzes Leben lang Zeit dafür zu haben. Doch die Zeit kannte keine Wünsche und ich hatte hunderte Gelegenheiten verpasst, hunderte entscheidende Momente verstreichen lassen. 

"Alles klar bei dir?"

Mein Kopf ruckte zu Liska hin, fand dort einen sonderbaren Ausdruck vor. Hatte sie Bauchschmerzen? Kopfweh? Dann jedoch ging mir auf, dass es sich um Mitleid handeln musste, merkwürdig deplatziert in ihrem unbarmherzigen Gesicht.

"Mädchen?"

"Alles gut."

"Natürlich. Deswegen siehst du auch aus, als hättest du einen Teller Nägel verschluckt."

Drachenseele - Die letzte ReiseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt