London Love: Josh & Annie

Kapitel 4 - Annie

Der Krebs frisst mich auf, lange werde ich nicht mehr durchhalten können.

Ich schlucke und schließe die Augen. Es geht nicht. Ich kann diese Sätze nicht lesen, geschweige denn, auswendig lernen und vor Publikum aufsagen. Mr. Cohen hat recht. Ich kann keine Distanz zwischen der Rolle und mir schaffen. Es ist eine unglaubliche Chance, denn zu dieser jährlichen Veranstaltung kommen einige Agenten auf der Suche nach neuen Talenten.

Ich atme tief durch, dann beginne ich weiterzulesen. Es muss sein, ich will diese Rolle unbedingt. Die Hauptrolle in der abschließenden Theatervorführung zu ergattern, ist ein unglaubliches Ding. Dafür muss ich allerdings den Text können. Ich konzentriere mich erneut.

Der Arzt hat mir nur noch drei Wochen Zeit gegeben. Ich kann nicht. Bei jedem Wort hüpft mein Puls in höhere Sphären und mein Hals wird eng. Ich weiß, dass das alles nur psychisch ist, aber ich kann es nicht abschalten. Das bedruckte Papier in meinen Händen ist wie Säure, die meine Haut verätzt. Bedrückt lasse ich den Text sinken. Es ist sinnlos weiter zu probieren. Mein Kopf weigert sich die Worte aufzunehmen. Ich lehne mich zurück und beobachte Casey, Jonas und Toby, die an ihrem Part arbeiten. Man sieht ihnen die Vorfreude auf das Theaterstück an und genau das ist es, was mir wehtut. Für sie sind es nur Worte und Sätze ohne Bedeutung, für mich sind es quälende Erinnerungen an meine Zeit mit dem Krebs. Meine Hand verkrampft sich. Ich zwinge mich, sie zu entspannen und streiche die Blätter gerade. Es ist ja nicht ihre Schuld. Trotzdem sind sie mir in diesem Moment unglaublich fremd und ich fühle mich Welten von ihrem sorglosen Umgang entfernt. Am anderen Ende des Proberaums diskutiert Mr. Cohen gerade mit Aiden, während Anna und Ben sich verliebte Blicke zu werfen, von denen sie glauben, dass keiner sie mitbekommt. Das Problem ist, dass Anna vergeben ist, was für sie allerdings kein Hindernis darstellt, wie ich sehe. Das lenkt mich ein bisschen von meinen eigenen Problemen ab, wofür ich die Beiden am liebsten knutschen würde!

Ben ist so offensichtlich in sie verliebt, es ist ein Wunder, dass Anna noch vergeben ist. Ich frage mich sowieso, warum sie nicht einfach mit ihrem Typen Schluss macht, denn Ben und sie wären ein perfektes Paar.

Mr. Cohen sieht mich an, während er von Aiden zugetextet wird. Bitte komm nicht zu mir! Ich bete, doch es hilft nichts. Schon im nächsten Augenblick klopft er Aidens Schulter und kommt geradewegs auf mich zu, worüber ich nicht gerade erfreut bin. Ich mag ihn sehr. Er unterstützt mich und meine angehende Karriere so gut er kann — aber ich will jetzt nicht über meine erste Therapiesitzung reden ...

Er meint es doch nur gut, Annie. Ich bin versucht, meinen Puls zu messen, aber ich kann mir denken, wie das Ergebnis aussähe.

Mr. Cohen setzt sich auf den freien Stuhl neben mir und schweigt für einige Sekunden, dann nimmt er die zerknitterten Blätter aus meiner Hand und sieht sich die Stelle an, an der ich hängen geblieben bin. Er seufzt. Ich mache mich schon auf eine weitere Rede bereit, in der er mir sagt, ich müsste lernen Abstand zu wahren. Doch er schweigt weiterhin. Stattdessen legt er die Hand auf meine Schulter und drückt sie.

Mr. Cohen sieht unheimlich gut aus. Er ist um die dreißig Jahre alt und dies ist sein erstes Jahr als Schauspiellehrer. Und er scheint mich zu mögen ... Ich weiß, dass ich keine Traumfrau bin, sondern zahlreiche negative Seiten habe, unter anderem die zu große Klappe. Ebenso wie die panische Angst vor Krebs und Krankheiten im Allgemeinen. Mr. Cohen kennt sie alle. Beim Coaching musste man seine geheimen Ängste und Sorgen ausbreiten und sie anschließend rational analysieren.

Mr. Cohen. Ich vermeide es, ihn mit James anzureden, obwohl er es mir schon vor längerer Zeit angeboten hat. Ebenso, wie allen anderen hier. Er ist nicht gerade schüchtern, weshalb er schon mit diversen Studenten im Bett war. An mir scheint er einen Narren gefressen zu haben — wahrscheinlich, weil ich bisher nicht auf ihn eingegangen bin ... Typisch Mann.