Schwarze Löcher

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Ich wartete auf Alec im Flur. Als ich geklingelt hatte, hatte nicht er mir die Tür aufgemacht, sondern seine Mum. Das war normalerweise nicht Alecs Art, er konnte es gar nicht leiden, wenn seine Mutter seine Freunde begrüßte. Das auch aus einem guten Grund: sie war die verklemmteste Person, die ich je gesehen hatte. Sie wusste nicht wohin mit sich, bekam nur ein „Hallo Lilly." heraus und verschwand dann um die Ecke in die Küche. Etwas verloren stand ich jetzt also im Flur und wartete auf Alec. Ich war nicht gerne hier. Nicht, wenn seine Mum da war. Manchmal war sie für einige Wochen weg - irgendwelche Therapien gegen was auch immer. Alec sprach nicht gerne darüber und ich fragte nie. Mir war das immer ganz recht. Alec war dann anders. Unbefangener und besser gelaunt. Außerdem hatten wir das Haus dann für uns. Konnten bis spät in die Nacht lautstark Musik hören und Pizza auf dem Wohnzimmerteppich essen. Alec wohnte alleine mit seiner Mum in dem riesigen Haus, mitten in einem weiten Feld, das man nur über einen Schotterweg erreichen konnte. Ich mochte die Gegend. Es war immer ruhig, man hörte nur die Vögel und das Rauschen der Blätter am Rande des Feldes. Keine Autos, kein Großstadtlärm wie bei mir. Alec hingegen hasste es. Mochte es nicht abgeschieden zu sein vom Rest der Welt.
Während ich wartete betrachtete ich die Bilder im Flur. Alec als Kleinkind auf einer Wiese und Alec mit Eisverschmiertem Gesicht. Immer wieder fiel mir auf wie wenig ich Alec eigentlich kannte. Ich kannte weder seinen Vater, noch wusste ich was seine Mutter für Probleme hatte. Klar, ich kannte sein Lieblingsessen und den Namen seines ersten Haustiers, aber die wirklich wichtigen Dinge, die kannte ich nicht. Wie konnte es sein, dass man einem Menschen so nah war, ohne ihn richtig zu kennen?
„Komme!", schrie Alec die Treppe herunter und riss mich damit aus den Gedanken. Kurz darauf polterte er die Stufen herab und wuschelte mir zur Begrüßung durch die Haare.
„Ey, du weißt genau wie sehr ich das hasse, Blödmann.", sagte ich kichernd. Während ich versuchte mir die zerzausten Haare zu richten, band er sich in Rekordzeit die schwarzen Chucks zu und stand dann breit grinsend im Türrahmen.
„Klar weiß ich das. Deswegen mach ich es ja, Liebste." Ich rollte mit den Augen. Eine weitere Sache, die er machte um mich zu provozieren: Kosenamen. Egal ob im Supermarkt oder quer über den Schulhof geschrien, Alec schaffte es immer wieder mich mit den bescheuertsten Namen zu blamieren.
„Kennst du den,", fragte ich und hielt meinen Stinkefinger vor sein Gesicht während ich an ihm vorbei in die frische Luft marschierte.
Er zuckte mit den Schultern. „Nie gesehen.", dann rief er noch, „wir sind dann weg Mum!" und knallte die Tür hinter sich zu.
„Und was machen wir heute?", fragte er als wir auf das Auto zu steuerten. Dieses Mal zuckte ich mir den Schultern. Wir hatten uns vorgenommen den Sommer best möglichst zu nutzen, doch bis jetzt waren wir immer nur am Badesee oder bei unserer Lieblingseisdiele gelandet.
"Oh wow, klingt wirklich super dein Vorschlag.", sagte Alec und setzte sich auf den Fahrersitz. Alec liebte sein Auto mehr als alles andere auf der Welt. Er sagte immer es gab ihm das Gefühl von Freiheit. Und das obwohl das schwarze Auto mehr einer Schrottkiste glich, als einem Auto. Aber so lange es funktionierte und Alec am Steuer saß, machte ich mir da gar keine Sorgen.
"Ich weiß was.", sagte er in die Stille hinein und startete den Motor. Auf meinen fragenden Blick streckte er mir nur die Zunge heraus. "Das wirst du erfahren wenn wir da sind."
Wir fuhren eine halbe Ewigkeit. Ich ließ Alec die Musik aussuchen und schob irgendeine CD in den Schlitz. Keiner von uns sagte was. Aber das war gut. Mit Alec konnte man Schweigen, ohne dass es komisch war. Ich liebte es wenn wir gemeinsam einsam schwiegen. Manchmal gab es eben keine Worte, die gesagt werden mussten. Ich schloss die Augen und genoss das Gefühl wie der Wind durch das offene Fenster durch meine Haare fuhr. Das Auto wurde langsamer und plötzlich standen wir vor einem großen, weißen Gebäude.4
"Und was genau sollen wir hier?", fragte ich.
"Das meine Liebe, nennt man eine Galerie. Da kann man sich Bilder anschauen. Ich weiß, Kultur ist nicht so deins. Aber das werde ich jetzt ändern." Er zwinkerte. Ich gab ihm einen kleinen Klaps auf den Arm. Er wusste ganz genau, dass ich diejenige war, die sich für Kultur interessierte. Ich wusste schon nicht mehr in wie viele unzählige Theaterstücke ich ihn geschleppt hatte und wie viele Museen wir uns gegen seinen Willen angeschaut hatten. Alec stand aus, umrundete das Auto um mir die Tür zu öffnen.
"Bitte die Dame." Ich rollte mit den Augen.

Außer uns war niemand in der Galerie. Sie war nicht groß und ich hatte mir schnell alle Bilder einmal angeschaut. Sie waren alle von der selben Künstlerin, irgendeine Holländerin. Sie waren nicht besonders groß und kamen an den hohen, weißen Wänden noch besser zur Geltung. Die Künstlerin hatte sich offenbar mit dem Universum beschäftigt, denn jedes der Bilder stellte entweder irgendwelche Planeten, Sterne oder undefinierbare Galaxien dar. Als ich am Ende angelangt war, drehte ich mich um. Doch hinter mir war niemand. Ich hatte Alec verloren. Ich schnaubte genervt und ging den Weg wieder zurück. Dann fand ich ihn, mit verschränkten Armen und konzentriertem Blick vor einem komplett schwarzen Bild stehen. Ich stellte mich neben ihn und versuchte zu verstehen, was genau er daran so faszinierend fand. Schwarzes Loch stand darunter. Nach einer halben Ewigkeit flüsterte Alec: "Schwarze Löcher sind schon irgendwie interessant oder?" Als ich nicht antwortete, fuhr er unbeirrt vor, "Manchmal stelle ich mir vor wie es wäre von einem verschluckt zu werden. Dann bist du nichts mehr. Gar nichts. Ich stelle es mir friedlich vor." Ich runzelte die Stirn. Seit wann war Alec so nachdenklich geworden. Jegliche Freude waren aus seinem Gesicht verschwunden, er starrte völlig leblos auf das Bild, als versuchte er darin zu verschwinden. Dann, kaum hörbar sagte er: "Und manchmal, manchmal hab ich das Gefühl ich trage ein schwarzes Loch in mir drin. Das saugt alles aus mir raus. Bis nichts mehr da ist. Und dann wird es anfangen alles um mich herum aufzusaugen."
"Alec. Was ist los." Er schüttelte sich und schüttelte damit auch den gläsernden Blick aus seinen Augen ab.
"Nichts, rein gar nichts.", er lächelte leicht, sodass ein ein Grübchen in seiner linken Wange entstand, "Bin eben ein Poet." Dann legte er seinen Arm um meine Schulter und schob mich ohne ein weiteres Wort aus der Galerie.

Alec Where stories live. Discover now