Nordturm

7 0 0
                                    

Vor zwölf Wintern

»Nur ein Traum«, wisperte ich, stur hoffend, dass es so sein würde, wenn ich es nur oft genug wiederholte. Ein Traum, mehr nicht. Doch die klirrende Kälte der Stufen unter meinen nackten Füßen war zu beißend, der Sturm zu laut, die Furcht in meinem Herzen übermächtig. Obwohl mir die Winddämonen verraten hatten, was mich am Ende der Treppe erwartete und alles in mir schrie, ich solle umkehren und die Finger nicht nach der Klinke ausstrecken – tat ich es dennoch.

Nur du kannst sie retten.

Die Tür glitt mir aus der Hand und krachte gegen die Wand. Mutter stand auf der Brüstung, ihr goldenes Haar tanzte mit den Schneeflocken. Ihr Gesicht, das meinem so ähnelte, erbleichte, als sie mich sah.

»Mary«, keuchte sie erschrocken. »Du darfst nicht hier sein! Geh zurück ins Bett, rasch! Es ist nur ein Traum« – ich wünschte, es wäre so – »nur ein böser Traum, Mary.«

»Mama«, flüsterte ich.

Sie blinzelte zum Abgrund, eine Hand auf den vereisten Zinnen. Als sie zurück zu mir sah, zwang sie ein Lächeln auf ihre Wangen. Ihre Stimme zitterte.

»Erinnerst du dich an das Versprechen, das du mir gabst?«

»Dass ich den Wald meide?«

»Halt dich daran, Mary, hörst du? Betritt ihn niemals! Versprich es mir.«

»Warum sagst du das immer?«

Ihr Lächeln brach. »Er ist das Unglück aller Königinnen.«

»Unglück?«, rief ich in verzweifelter Hoffnung, sie würde weitersprechen, immer weiter und weiter, und darüber hinaus vergessen, weshalb sie hierhergekommen und die vielen Stufen des Nordturmes hinaufgestiegen war. Weshalb sie auf der Brüstung stand.

Ihr Blick fand den Himmel, der dunkel und schwer über uns hing, von Blitzen erhellt und Donnern durchtränkt. »Es ist Winters Fluch, an dem wir alle zerbrechen.«

»Mama«, wimmerte ich.

Tränen erstickten ihre Stimme. »Du hast mein Herz, Mary. Mein Schicksal. Mein Gesicht. Du bist wie ich. Sei nicht wie ich.«

»Mama!«, schrie ich, da ließ sie los.

Frühlings TodWhere stories live. Discover now