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2 - Legenden und Geschichten

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"Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt."

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Ich hatte mir das Lesen auf einem Kamel einfacher vorgestellt.

Leider wurde mir von dem Marsch über die Dünen speiübel und ich musste Der Fall des letzten Sultans bei Seite 361 zurück in meine Tasche stopfen. Genau dann, als es spannend wurde und ich bei einer Szene stecken geblieben war, in welcher der Sultan des ewigen Sandes die Sternenseherin bei sich im Palast empfing — der Anfang seines legendären Endes. Ich nahm mir vor, die Fortsetzung später zu lesen, wenn ich wieder festen Boden unter den Füssen spürte.

Den Rest der Strecke, welcher die Karawane bis kurz vor Mitternacht hinter sich bringen wollte, verbrachte ich grün und gelb im Gesicht und halb über dem Höcker hängend, schwer darum bemüht, das Couscous, das ich vor meiner Abreise bei meiner Grossmutter zum Frühstück gegessen hatte, nicht in die Wüste zu spucken. Der Gestank des Tieres half nicht sonderlich, mich besser zu fühlen, doch als der nächtliche Wüstenwind meinen Nacken kühlte, atmete ich durch.

Wir schlugen unser Zeltlager am Fusse einer grossen Düne auf. Dort, wo der Sand flacher verlief und die Kamele rasten konnten. Ein artesischer Brunnen ragte aus dem Boden. Die Backsteine, welche den Brunnenschacht umfassten, bröckelten bereits und waren ein Zeichen dafür, dass dieses Wasserloch schon seit geraumer Zeit nicht mehr benutzt worden war. Ich bezweifelte, dass wir da noch trinkbares Wasser herausschöpfen würden.

Ein Mann aus der Karawane näherte sich dem Brunnen mit einem Holzeimer und liess diesen mit einem Seil in die Tiefe surren. Er trug die typische Kleidung der Kasbahra — einen schwarzen, knöchellangen Kaftan mit langen Ärmeln. Um seinen Kopf schlang sich ein rotes, gerolltes Tuch, welches mit einer Kordel aus Ziegenhaar gesichert wurde. Sein Gesicht war sonnengebräunt.

Das laute Platschen, als der Eimer den Grund des Brunnens erreichte, zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Er hob den Blick und für einen Wimpernschlag verlor ich mich in seinen hellblauen Augen. Solche Augen waren in dieser Gegend genauso selten, wie jene meiner Grossmutter oder meine eigenen — türkis und fliederblau. Mir stockte der Atem.

Viel zu spät merkte ich, dass ich ihn angeglotzt hatte und konnte nur noch beschämt den Kopf zur Seite legen, als er mir zuzwinkerte. Dann widmete er sich wieder ganz seiner Aufgabe, Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen.

Ich schob den freien Zipfel meines schwarzen Kopftuches, der sich beinahe gelöst und mein Gesicht entblösst hätte, wieder an Ort und Stelle. All die Zeit bei Sitty hatte ich kaum einen Gedanken an meinen Gesichtsschleier verschwendet. Ich würde mich wieder öfters ermahnen müssen, ihn täglich über Mund und Nase zu tragen.

Stimmen und Gelächter hallten über das Zeltlager und lenkten meine Aufmerksamkeit zum grossen Feuer. Das Abendessen wurde serviert. Ich schritt auf die Gruppe zu. Sogleich wurde mir eine Schüssel Kichererbsensuppe gereicht, die ich mit einem Becher Wasser dankend entgegennahm. Aus Höflichkeit setzte ich mich und ass mit der ganzen Reisegesellschaft, obwohl ich kein Wort sagte.

Ich sollte sowieso nur dann sprechen, wenn man mir eine Frage stellte.

Meine Anwesenheit wurde stumm toleriert. Schliesslich hatte Sitty die letzten Dinaren zusammengekratzt, um den Karawanenführer davon zu überzeugen, mich als Zusatzlast mitzunehmen. Während ich den reichhaltigen Geschmack der Linsen, Tomaten und Gewürze in meiner Suppe genoss, lauschte ich den Gesprächen der Männer.

„Ist es also wahr, was man hört?", fragte ein Händler, der aussah, als käme er nicht von hier. „Die Geschichten?"

Seine Kleidung war mir unbekannt, doch ich vermutete, dass er ein Zhenzhu war  ein Perlenhändler der östlichsten Inseln, die weit hinter den Bergketten lagen, deren schneebehangenen Gipfel man an klaren Tagen von den Sanddünen aus erspähen konnte. Meine Grossmutter hatte mir einst eine Weltkarte gezeigt und mir von den Gebieten erzählt, die sich jenseits der Grenzen Tulhaias erstrecken. Doch damit hatten wir uns nur kurz befasst, denn Sitty meinte, dass ich als Kasbahrin nicht wissen müsse, was dahinter liege.

Zwischen Sand und SternenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt