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5 - Schadscharat al-Haya

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"Es gibt keinen Baum, der noch nicht von einer Brise geschüttelt wurde."

✶✶✶

Ich blinzelte durch meine sandverklebten Lider, denn mein Verstand wollte nicht fassen, was sich vor mir offenbarte.

Schadscharat al-Haya ragte majestätisch aus der Dürre wie ein Geist des Lebens. Seine Krone so breit und hoch, dass ich den Kopf weiter in den Nacken legen musste, um die oberen Äste im Himmel zu erspähen. Sein Stamm war mächtig. Wahrscheinlich konnten sich fünf Menschen darum herum die Hände halten und es würde nicht ausreichen, um ihn zu umfassen.

Ein gigantischer Baum und so saftgrün, wie ich das noch nie gesehen hatte. Wie konnte ein solcher Riese in der Wüste überleben? Es war unmöglich! Seine Wurzeln mussten tief ins Innere der Erdkruste reichen, weiter als die tiefsten Brunnenschächte dieser Erde.

Plötzlich schoss Leben durch meinen Körper. Ein Überlebensinstinkt vielleicht, oder einfach nur blinde Dummheit. Meine Füsse trugen mich zu ihm, setzten einen Schritt vor den anderen, als ziehe mich eine unsichtbare Kraft in seine Arme, in seinen Schatten, der sich dunkel und verführerisch unter seinen Ästen erstreckte. Es war mir egal, was man über ihn sagte.

Ich wollte zu ihm — ich musste zu ihm.

Im Schutz seiner Krone angekommen, brach ich zusammen. Ich weinte. Das Wasser in meinem Körper war längst versiegt und so kamen keine Tränen, aber ich weinte und schluchzte gleichwohl.

Die kühlen Schatten schienen meine Haut zu streicheln und mich trösten zu wollen. Die Blätter raschelten in der Brise, die über die Wüste zog. Es war Musik in meinen Ohren, die mich zutiefst beruhigte.

Erschöpft schloss ich die Augen und schlief ein.

✶✶✶

Der Schatten schien mir nicht nur wohlgetan, sondern auch Kräfte geschenkt zu haben. Ich schaffte es, mich nach einem Nickerchen wieder aufzuraffen und meinen Oberkörper aufzurichten. Es dämmerte bereits.

Ich fühlte es im frischen Wind, der um meine Kleider strich, dass die Hitze des Tages vergangen war.

„Hast du möglicherweise Früchte, die in deinen Ästen reifen?", krächzte ich und blickte auf den dicken Stamm, als wäre es ein Mensch, der vor mir stand.

Natürlich kam keine Antwort. Schadscharat al-Haya war — allen Legenden zum Trotz — also doch einfach nur ein Baum.

Das Loch in meinem Bauch wand sich qualvoll und für einen Moment überlegte ich mir, ob es schlau wäre, die saftgrünen Blätter von den Ästen zu essen. Wenn ich Glück hatte, dann waren die Blätter nicht giftig. Aber wer wusste das schon? Ich kannte keine Legende von jemandem, der sich wie ein hungriger Elefant über die Blätter des heiligsten Lebensbaumes hergemacht und das noch überlebt hatte.

Wenn ich so darüber nachdachte, wollte ich auch nicht diejenige sein, welche diese Art von Geschichte ins Leben rief.

Nicht unbedingt ehrenvoll.

Ich kroch näher zum Baumstamm, denn dort war sein Schatten noch wohltuender als am Rand. Erst jetzt bemerkte ich, dass Schadscharat schief wuchs. Ein Ast auf seiner rechten Seite hielt dem eigenen Gewicht nicht stand und neigte sich so stark dem Boden entgegen, dass die äusserste Astspitze den Sand berührte, wie ein Finger, der auf etwas deutete.

Dieser Baum musste wirklich tausende Zyklen überlebt haben, aber die Last des Alterns war selbst an ihm nicht spurlos vorbeigegangen.

Es zog mich näher zu seinem Zentrum. Ich spürte es im Wind an meiner Haut, im Sand zu meinen Füssen. Ein Summen, das den Boden zum Vibrieren brachte — in einem regelmässigen Rhythmus. Kommend und gehend, als hätte der Baum einen Herzschlag. Es wummerte durch meine Glieder und jagte mir eine angenehme Gänsehaut über den Körper.

Zwischen Sand und SternenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt