Die Frist eines Jahres,

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 oder:
in der Praxis ist die Theorie anders

Dr. Armando und Dr. Ruy waren wie Brüder und bildeten zusammen mit einigen wenigen Intellektuellen, alle geschult und orientiert durch den Jesuitenpater Werner Von und Zur Mühlen, die Spitze der Pyramide der Katholiken, die mit der allgemeinen Unordnung/Unruhe und Korruption in der Politik aufräumen wollten. Auch hatten sie Angst vor dem Kommunismus.

Die Zeiten waren heiss und konfus, der Krieg kalt. Die damaligen beiden Weltmächte(sechziger Jahre) hatten ein Auge auf Brasilien geworfen, und überhaupt auf ganz Lateinamerika: Der amerikanische Imperialismus wollte kein Land ausserhalb seiner politischen und kommerziellen Einflusssphäre, die Expansionsgelüste Russlands wollten die Welt mit der sozialistischen Revolution erobern: 2 Pole, 2 Welten, unversöhnliche Vorstellungen, wie man regieren sollte. Beide Seiten schickten ungeheuere Geldmengen nach Brasilien, wie man so langsam aus den nach 50 Jahren langsam freigegebenen Dokumenten erfährt.

In Brasilien gab es Unruhen, der Präsident João Goulart schien die Kontrolle über die Situation verloren zu haben. Seine Agrarreform, die von allen als nötig angesehen wurde, wegen der grossen sozialen Ungerechtigkeiten, wurde von der radikalen Linken als Leitmotiv übernommen. Viel Politiker und Intellektuelle sahen das nicht gerne; sie wollten kein Blutvergiessen, so wie einige Jahre zuvor in Cuba. Cuba war ein Symbol geworden für die Universitätsjugend aller Welt, sie fuhren dorthin, um bei der Zuckerrohrernte zu helfen. Diese Jugend wollte dieselbe Revolution in Brasilien, was von den Sozial-Demokraten verabscheut wurde; sie waren gegen einen bewaffneten Konflikt, hatten im Kopf noch die Millionen von toten Stalins und die Konflikte des Kalten Krieges. Brasilien war gespalten. Da es in der Geschichte keine Fakten gibt, nur Versionen, versuche ich hier, die Version der Gruppe um Dr.Ruy wiederzugeben:

Sie waren Nationalisten und der Meinung, Brasilien könne sich in demokratischer Ordnung entwickeln, ohne Waffengewalt. Unter dieser Sicht unterstützten sie die Revolution von 1964, als das Heer die Macht übernahm, um den Plünderungen und gewalttätigen Märschen Einhalt zu verschaffen. Laut Römischem Recht war eine Revolution erlaubt, vorausgesetzt, dass sie nur ein Jahr lang dauere. Sie nannten es Revolution, die anderen, Militärputsch.

In dieser Zeit war Dr. Ruy Finanzsekretär von Rio Grande do Sul. Die Finanzen konnte er sanieren, Polizei und Lehrer wurden pünktlich bezahlt vorher hatten sie monatelang keinen Gehalt bekommen, aber die Politik konnte er nicht positiv beeinflussen. Nach einem Jahr Revolution verlangten die Sozial-Demokraten freie Wahlen und den Abzug des Militärs, aber dieses kam für eine Sache und blieb für eine andere. Die blaue Fliege hatte sie gestochen, ihr Biss verändert den Realitätssinn und lässt eine unsagbare Lust auf Macht aufkommen.

Die Gruppe um Dr. Ruy reichte deshalb die Demission von allen Ämtern ein und ging in die Opposition. Der Abgeordnete Carlos de Britto Velho formulierte das so: „Eine Schwangerschaft, die länger als 9 Monte dauert, gebiert keinen Menschen, sondern ein Monster".

In dieser Zeit u d unter diesen turbulenten Umständen lernte ich meinen Schwiegervater kennen. Es war November 1965. Er verbrachte seine Tage im Kabinett, in der Rua Gonçalo de Carvalho. Dort empfing er Politiker, die Tag und Nacht aus und eingingen, und Carlos Mutter und die Gouvernantin Olga servierten ununterbrochen Kaffee. Vor lauter Zigaretten- und Zigarrenrauch konnte man kaum sehen, wer im Zimmer war.

Die Telefone der Regierungsgegner wurden abgehorcht, man hörte die Zensoren untereinander reden und ein Geräusch, wenn die Telefonistinnen die Verbindungen steckten. Dr. Ruy und Dr. Armando vergnügten sich dabei: „Hörst Du, Armando, die Sykophanten sind wieder beider Arbeit". „Kein Problem, Ruy, diese Pícaros (Schurken) werden wertvolle Zeit damit verbringen müssen, im griechischen Wörterbuch zu studieren".

          

Dr. Ruy wurde Kandidat der Opposition für die indirekten Gouverneurswahlen und weil er die Unterstützung der Mehrheit der Abgeordneten der zwei Parteien Arena und MDB hatte, wurden diesen, einem nach dem anderen, die politischen Rechte durch die Militärdiktatur entzogen, damit die Wahl nicht stattfinden könne. Das Heer hatte wirklich die Macht fest übernommen und der Putsch, denn Revolution war es ja keine mehr, dauerte lange, schlimme 20 Jahre. Dr. Ruy zog seine Kandidatur zurück, um dem Abwürgen der noch restlichen Abgeordneten ein Ende zu machen: 'Ich bin nicht gekommen, um zu schaden". Als Gouverneur „gewählt" wurde Walter Peracchi Barcellos.

Viele in Dr.Ruy's Umfeld verloren zwangsweise ihren Beruf, ihre Arbeit. „Zwangspensionierung" nannte man das, natürlich ohne Gehalt. Ausser den Abgeordneten und dem ältesten Sohn wurden auch drei Vetter vom Miltärdekret getroffen: der Abgeordnete Carlos de Britto Velho, der Philosoph Victor de Britto Velho und Gabriel de Britto Velho, der „zur Vorsicht" bestraft wurde, obwohl er gar kein Amt innehatte.

Man erzählt sich in der Stadt, dass die Miltärregierung, um die Familie etwas zu beruhigen, Dr. Ruy's zweitältesten Sohn zum Landwirtschaftsminister berief. Hat sie die Familie wirklich beruhigt?

Es sah nicht danach aus, denn nur wenige Minuten, bevor wie davon erfuhren, waren tranken wir Kaffee mit Dr. Ruy in seinem Haus, im hinteren Zimmer mit Ausblick auf den Goldfischteich. Er war alleine zuhause, Dona Maria war in Rio de Janeiro, bei Verwandten, wo sie sich von wieder einer Chirurgie erholte, die sie in dieser viel grösseren Stadt versucht hatte, um vielleicht endlich ein Problem bewältigen zu können, das ihr von den vielen Geburten geblieben ist. Das Radio war an, in dieser turbulenten Zeit könnte ja jeden Augenblick eine Nachricht der Militärdiktatur kommen, die gerade einen neuen Präsidenten hatte, den General Médici. Die Nachricht kam: Buzaid sei der neue Justizminister. „So eine Sauerei, und dieses Schwein hat angenommen", tobte mein Schwiegervater.

Es dauerte keine zwei Minuten und Carlos Bruder kam, bat seinen Vater privat ins Kabinett, um ihm mitzuteilen, dass er zum Landwirtschaftsminister berufen worden war. Er wolle versuchen, die Dinge wieder ins rechte Lot zu bringen, gab er in einem Presseinterview an, als er gefragt wurde, wie er die Zwangspensionierungen in seinen Familie sehe. Es gelang ihm nicht, obwohl er in seinem Ministerium Erfolg hatte, besonders durch die Gründung der Emapra und Emater, Organe für Forschung und Orientierung der Landwirtschaft, was dazu führte, dass Brasilien zur einer Weltmacht in dieser Branche aufsteigen konnte. Politisch hatte er keinen Erfolg, nach einigen Jahren dankte er ab. Für seine Kinder war es bestimmt nicht leicht, Kinder des Ministers des Diktators Médici zu sein, auch für mich nicht, unter den Künstlern, als Schwägerin des Ministers, aber das wurde dann besser, als er abdankte, entweder, weil er mit dem Minister Delfim Neto verkracht war, der, als Finanzminister, der Landwirtschaft das Geld für die Ernte verweigerte, wie manche erzählen, oder, weil er frei sein wollte, um als Kandidat für die Gouverneurswahl in Rio Grande do Sul antreten zu könne, was man damals munkelte, oder aber, dass er doch meinte, die Militärs folterten zu viel; wir erfuhren das nie.

Zwei andere Brüder von Carlos liebäugelten mit den so genannten Kommunisten. Jôa Antônio war mit den Leuten aus dem Rechtsanwaltsbüro von Luiz Heron de Araujo befreundet, wo auch Dona Dilma Rousseff verkehrte, zur Zeit Präsidentin Brasiliens. Jeden Tag am späteren Nachmittag tranken sie zusammen Bier in der Bar do Alemão (des Deutschen), und am Wochenenden spielten sie Fussball in einem Club.

João Antônio war sich nicht im Klaren, ob er etwas besitzen solle oder nicht, deshalb liess er das Haus, das er geschenkt bekommen hatte, nicht auf seinen Namen umschreiben. Oder aber er tat es nicht, bloss weil es charmant war, pour épater da bourgeoisie, um sich dann später das Haus juridisch zu „ersitzen". So benannte er auch, ohne jemanden zu fragen, eine neue Strasse, die hinter unserem Haus aufgemacht worden war und unser Grundstück begrenzte, als Rua Cândido Gomes, und trug sie so ins Grundbuch ein. So ehrte er eine Bewohner der Gegend, einen überdicken Obst- und Gemüseverkäufer, der täglich mit seinem Fuhrwerk Orangen und Kohl an den Gartentoren anbot; er hatte weder besondere Verdienste erworben, noch war er tot. So trug João Antônio zum sozialen Aufstieg der Arbeiterklasse bei.

Der andere Bruder war José Maria, der in Rio de Janeiro einen Koffer in seinem Auto befördern musste, genau zur Zeit, als der Safe von Adhemar de Barros aufgebrochen worden war, von diesem Gouverneur der Gelder stahl wo er nur konnte. Niemand erzählte Zé Maria etwas, aber er vermutete stark, dass es sich um Adhemars Dollars handelte, und er dazu gebeten worden war, weil er als verlässlich galt, als Bruder von João Antônio, der wiederum Freund von Luiz Heron war, dem Bruder von Carlos Araujo, dem Lebensgefährten von Dilma Rousseff, die als Chefin der Aktion galt und die, so erzählte man sich, Maschinengewehre unter ihrem Bett versteckt hatte. Genauso verzwickt alles wie dieser Satz. Viele waren sehr jung, auf den Fussstapfen der Studentenrevolution, ohne Guerrilla Ausbildung, aber voller Ideale und politischem Bewusstsein. Sie wollten die Demokratie aufbauen, benützten aber undemokratische Mittel und manchmal eine Sprache, die nicht einmal ihnen geläufig war, umso weniger dem brasilianischen Volk: „Geben sie das Geld der Kasse ab, es handelt sich um eine revolutionäre Enteignung". „Was?" „Eine revolutionäre Enteignung!". „Was???" „Scheisse, her mit der Kohle, es ist ein Überfall!".

Carlos' Zwangspensionierung wurde Notiz in der Veja, der meistgelesenen Wochenzeitschrift Brasiliens. Die Reporter suchten ihn überall, um die Reportage zu illustrieren. Sie fanden in der Judo Akademie von Sensei Obata, hinter de Santa Casa, in den kleinen alten Häusern gegenüber der Fakultät für Ingenieurwesen. Auf dem Foto sitzt er im Dojo, als ob ein Judoca sitzend etwas gegen die Miltärregierung hätte ausrichten können, noch dazu, da er damals noch Weissgürtel war. Erst viele Jahre und viel Training später wurde er Schwarzgürtel und kam bis zum Dritten Dan. Ich, die ich schon von der Familie den Titel einer Kabarettstänzerin bekommen hatte, wurde in der Reportage als Ex-Klosterfrau dargestellt. Der frühere Titel hatte mir besser gefallen.

Der eine Sohn von Dr. Ruy sass in Brasilia und baute die Transamazônica, die Strasse durch den Urwald, die von nirgendwo kam und nach nirgendwohin führte und die heute nur mehr streckenweise existiert, weil der Urwald stärker war. Der andere Sohn suchte einen Job in Porto Alegre. Aber bis meine Eltern von diesem Umsturz in unserm Leben erfuhren, hatte sich unsere finanzielle Situation schon etwas gebessert: Der Philosoph war in der Wirtschaft gelandet, wie vorhergesehen. Carlos liess seine Diplome beglaubigen und registrierte sich als Verwalter im dafür zuständigen Regierungsorgan, CRA. Er erhielt die Nummer 42. Heute gibt es Tausende.

L*

KAIWhere stories live. Discover now