Markus war inzwischen 15 Jahre alt geworden. Vier Jahre lang hatte er im berühmten Jesuiteninternat Stella Matutina studiert, das in Feldkirch lag, an der Schweizer Grenze, eigentlich vollkommen schlecht platziert für Österreich. Aber die schlauen Jesuiten ergatterten so Schweizer Studenten, denn in der Schweiz selber durften sie sich nicht niederlassen, sie waren von dort vertrieben worden; zur Abwechslung wieder einmal von irgendwo vertrieben.
Die würdige Schule, „Kolleg" genannt, wurde im Jahre 1651 eröffnet, dann geschlossen, dann wieder geöffnet, immer wieder machten die Jesuiten den Regierenden Schwierigkeiten. Aber 1979 schloss sie für immer, es fanden sich keine Jesuiten mehr, die sie als Lehrer weitergeführt hätten, so konnte Markus seine Oberstufe dort nicht beenden.
Nicht dass Markus ins Internat kam, weil er nicht studiert oder sonst Schwierigkeiten gemacht hätte, sein Problem waren zu viele „Mütter". Er wusste es sofort auszunützen, dass er der Jüngste war, schön, mit einem blonden Lockenkopf, blauen Augen, bezauberndem Lächeln, das meine Schwestern dazu brachte, dass sie alles für ihn und an seiner statt machten: die Hausaufgaben bekam Markus von Brigitte geliefert, die damals 13 Jahre alt war; zum Anziehen brauchte er nur die Arme ausstrecken, und Roswitha kam gelaufen, 16 Jahre alt, um ihm den Pullover überzuziehen. Knieend zu seinen Füssen band sie ihm auch jeden Tag die Schnürsenkel. Beide waren verliebt in den kleinen Engel, er gab zuhause den Ton an; seine wirkliche Mutter schimpfte „verwöhnt ihn nicht so", aber es half nichts, bis es ihr eines Tages zu bunt wurde und sie beschloss: "Dieser Bub muss in ein Internat, mit anderen seinesgleichen zusammenleben, lernen zu überleben". Und so kam es; seine Kleider und Habseligkeiten wurden mit der Nummer 101 bestickt.
Davon übrig ist noch eine Stoffserviette, die unsere Mutter bis heute benützt, hätte ich bald geschrieben, muss es aber tränenden Auges korrigieren: Sie benützte sie bis zum 27. Mai 2014, als sie in der Nacht auf den 28., ermüdet von einem Tag der Verabschiedungen und ihrer letzten Worte „Es ist alles wunderbar", einschlief und nicht mehr aufwachte. Wie alles in Adelheid's Leben war auch ihr Abschied ein kleines Abenteuer: Während sie im Sarg in der Kirche lag und alle Leute schon in den Bänken im Kirchenschiff sassen und die Glocken in verschienen Tönen läuteten, sass der Pfarrer beim Wirt, bei einem gutem Wein. Die Ministranten liefen herum, in die Sakristei, zum Markus, um den Sarg herum, wieder aus der Kirche hinaus. Markus fiel nicht anderes ein, als zu sagen: „Liebe Trauergemeinde, niemand weiss, wo der Herr Pfarrer ist, also bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten. Woraufhin alle anfingen, Rosenkranz zu beten, was ja immer schon ein Zeittötendes Mittel gegen Langeweile und Unlust war, lange bevor es Alprazolam und dergelichen gab; und das, wo alle meine Geschwister schon aus der Kirche ausgetreten waren, aber trotzdem noch die Litanei kannten. Er kam aber doch, der Herr Pfarrer, leicht angeheitert, was ihn dazu brachte, unter Dionysius' Schutz, locker und leicht über den Tod zu reden, so wie es Adelheid wollte.
Ein paar Mal konnte ich Markus mit Adelheid im Internat besuchen. Dann gingen wir mir ihm in die Schattenburg in Feldkirch, eine mittelalterliche Burg, in dem es eine Gastwirtschaft gibt, wo er ein Riesenschnitzel bekam, das noch grösser war als die berühmten Wiener Schnitzel hinter dem Stephansdom, beim Figlmüller, und über den Tellerrand noch um Zentimeter herausragte. Manchmal traf ich Markus auch, wenn er „Heimurlaub" hatte, von Freitag bis Sonntag. Immer bekam er eine Stange ungarische Salami und ein Stück Speck mit, wodurch er wahrlich das Gegenteil eines Vegetarianers wurde.
Peter Naumann, ein grosser Freund aus Brasilien, wohnte in der Nähe der Stella Matutina, in Konstanz; er genoss ein Stipendium für Musik. Wir verabredeten einmal, es war 1974, ein Treffen in der Stella, um mit ihm und Markus den Tag zu verbringen. Peter hatte kein Auto kam per Bus und Bahn, verliess seine Stadt um 6 Uhr in der Früh, damit er mittags in Feldkirch sei, nur 83 km entfernt. Er kam wütend an: „Und die möchten noch, dass wir öffentliche Verkehrsverbindungen benützen!".
Peter hatte noch keinen Platz im Studentenheim bekommen und wohnte bei einer alten Deutschen, die Zimmer vermietete. Zimmer ohne Bad: „Wenn sie baden möchten, gehen sie in eine öffentliche Badeanstalt". Er hasste sie und die Deutschen, die sich nie zu waschen schienen und nach Schweiss stanken. Später übersiedelte er in die Schweiz, bis etwas im Heim frei würde. Dort traf er zwei Musiker, auch solche „drop-outs" wie er, und mit ihnen gründete er das Trio Naumann-Bretthauer-Ender, das Konstanzer Trio, für klassische Musik.
Markus schaute zu Peter auf, wie man einen Star bewundert.
An diesem Tag fuhren wir nach Liechtenstein Mittagessen. Später einmal erzählte mir Peter, wie sein Trio dazugekommen war, für den Fürsten von und zu Liechtenstein, Franz Josef II, zu spielen, der vom Erfolg des Trios gehört hatte. Die Zuhörer waren alle in Gala, auf der Bühne drei Musiker in Jean Hosen, die Knie mit Lederpflastern geschützt und mit Turnschuhen. Ein leicht schockiertes Publikum konnte den Fürsten aber nicht daran hindern, die Musiker reich zu entschädigen, ohne eine Quittung zu verlangen. Peter konnte sich mit diesem" illegalen" Geld ein ganze Bibliothek kaufen; doppelt illegales Geld, denn Stipendiaten dürfen kein Geld verdienen, sonst hätten sie das Stipendium abgeben müssen, und der Fürst, der in einem Steuerparadies lebte, hatte auch keinerlei Bürokratie vor.
Schon damalsspürte Peter, dass sich seine Pianistenkarriere dem Ende zuneigte. Eine schwereOperation an seiner Wirbelsäule hatte Folgen an seinem linken Arm hinterlassen,der immer wieder, ganz plötzlich, und für Augenblicke nur, das Gefühl verlierenkonnte. Sein absolutes Gehör und seine Virtuosität als Klavierspieler musstensich andere Überlebenschancen suchen. Er wurde Simultanübersetzer, da er beinahezwei Muttersprachen besass und zwei Heimatländer: Kind deutscher Einwanderer,in Brasilien lebend. Er springt vom Portugiesischen ins Deutsche und umgekehrteben nur wie einer, der diese Sprachen sehr früh mitbekommen hat. So wie eralle Partituren auswendig spielte, behielt er auch die Texte der Redner imGedächtnis, was ihn zum meistgesuchten Übersetzer und DolmetscherLateinamerikas machte. "Omnis Traductor Traditor" traf nie auf ihn zu.
Seine Doppelsprachigkeit nahm ihm aber sein Identitätsgefühl; welchem Heimatland gehörte er wohl an? War auch er der Theorie: meine Sprache ist meine Heimat? "Wo immer ich bin, bin ich ein Fremder, einer von draussen". Gleichzeitig in zwei Welten leben war für ihn das Schicksal eines Übersetzers: von der einen in die andere „über setzen".
Ist das nicht auch so mit Einwanderern, oder Auswanderern, die sich nie entscheiden können, wo sie zuhause ist? So wie ich?
ed+8

ESTÁS LEYENDO
KAI
Aventuraes geht um eine grosse Reise in ein neues Land und um einen Hund, der philosophiert.