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Kapitel 6

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»Ich glaube, das reicht für heute«, sagte Cila, Besitzerin des Lokals, in dem Tavia normalerweise arbeitete, und entfernte das noch halbvolle Glas aus Leros Reichweite. Mit einem frustrierten Seufzen legte er den Kopf in die Hände und brummte unverständliche Worte.

Cila betrachtete ihn und konnte nicht verhindern, dass sich ein Knoten aus Mitleid in ihrem Inneren bildete. Wie gerne würde sie ihm helfen. Ihm sagen, dass es Tavia mit Sicherheit gut ging. Doch das konnte sie nicht, denn Lügen waren das Letzte, was Lero in diesem Moment brauchte.

»Sie ist weg, Cila. Ich habe versagt. Das Leben hat mir eine einzige, wichtige Aufgabe gegeben: Ein Mädchen großziehen, das bereits genug Leid in ihren jungen Jahren erlebt hat. Und ich? Ich habe elendig versagt.« Lero gab sich die Schuld für Tavias Verschwinden. Einerseits wusste er, dass er eigentlich nichts dafür konnte, doch das schlechte Gewissen lastete schwer auf seinem Herzen.

Cila zog ihre Augenbrauen zusammen und lehnte sich über den Tresen zu Lero herüber, bevor sie ihre Hände auf seine Schultern legte und ihn leicht schüttelte.

»Reiß dich zusammen. Tavia ist alt genug, um auf sich aufpassen zu können.«

»Nicht auf einem Schiff mit einem Haufen an Männern aus Erilos!«

»Woher willst du wissen, dass sie tatsächlich auf diesem Schiff ist?«, fragte Cila und versuchte, mehr Überzeugung in ihre Stimme zu legen. Und das, obwohl sie selbst alles andere als überzeugt war.

»Wo soll sie sonst sein? Sie ist verschwunden, als auch das Schiff abgelegt hat, Cila. Wir sollten aufhören, uns irgendwelche Wunschgedanken einzureden. Sie ist dort und sie ist in Gefahr. Und ich kann nichts dagegen tun.« Unwillkürlich suchte Leros Hand erneut nach dem Glas mit der Flüssigkeit, die ihm eigentlich noch viel mehr Kopfschmerzen bereitete.

»So viele Jahre haben wir versucht, sie von ihrer Vergangenheit fernzuhalten, wir alle hier – auf deinen Wunsch hin. Lero, denkst du nicht, dass es langsam Zeit für sie wird, sich selbst kennenzulernen? Vielleicht ist es ja Schicksal, dass sie weg ist. Dass sie möglicherweise auf dem Schiff gelandet ist.«

Leros Augen weiteten sich bei Cilas Worten. »Schicksal? Schicksal?! Du nennst ihren möglichen Tod – Schicksal?!« Er konnte spüren, wie er langsam, aber doch die Fassung verlor, von der er sowieso nicht mehr viel übrig hatte. Seine Hände zitterten, während die Ader an seiner Schläfe pochte. Er konnte sich noch nicht einmal daran erinnern, wann er das letzte Mal in einem solchen Zustand gewesen war. Ob er sich überhaupt jemals in einer solchen Verfassung befunden hatte.

»Verdreh mir nicht die Worte im Mund, junger Mann!«

Fast hätte Lero aufgelacht bei der Bezeichnung, die sie ihm gab. Denn in diesem Moment fühlte er sich älter als je zuvor.

»Du kannst nichts daran ändern, dass sie weg ist. Anstatt also deine Sorgen in diesem ekelerregenden Zeug zu ertränken, solltest du dich aufraffen und das tun, was ein vorbildlicher Mann in einer solchen Situation tun würde. Das, was ein Vater, der Vertrauen in seine Tochter hat, tun würde.« Mit glasigen Augen schaute Lero zu Cila auf.

»Und was soll das sein?«

»Du solltest an sie glauben.« Sie schmiss sich das Handtuch, mit dem sie gerade noch einige der Gläser trocken gewischt hatte, über die Schulter und schnaufte. »Und jetzt geh nach Hause, schlaf dich aus und reiß dich zusammen. Das da«, Cila deutete mit einer Geste auf Lero und ließ abschätzig ihren Blick über sein Erscheinungsbild schweifen, »kannst du ja echt keinem zumuten.«

***

Mit einem Fuß wippte ich auf und ab, die Hände hatte ich nervös ineinander verschränkt. Wäre ich nicht so konzentriert auf den Mann auf der anderen Seite des Holztisches gewesen, hätte ich vielleicht gemerkt, dass ein Schweißtropfen über meine Schläfe lief.

Sensing SoulsWhere stories live. Discover now