• Lilien

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Ava hatte die ganze Nacht über wach in ihrem Bett gelegen. Sie hatte sich von einer Seite auf die andere gewälzt, an die Decke gestarrt und die Worte, die er ihr geschrieben hatte, so oft gelesen, bis ihr Herz so sehr geschmerzt hatte wie damals.

Auch als sie die Karte längst nicht mehr in den Händen gehalten hatte, hatte sie nicht in den Schlaf gefunden. Der Schmerz in ihrem Herzen war so unerträglich gewesen und seine Stimme hatte so laut und unaufhörlich in ihren Ohren geklungen, dass sie einfach keine Ruhe gefunden hatte.

Am frühen Morgen schon, war sie aus ihrem warmen Bett gekrochen und mit den Gedanken ganz bei ihm, hatte sie Wasser in ihre Lieblingstasse gegossen und einen Teebeutel in das heiße Wasser gegeben. Die Worte, die auf der Karte geschrieben standen, kannte sie zu diesem Zeitpunkt schon beinahe auswendig. Die gute Laune, die sie gestern noch verspürt hatte, war seit dem Nachmittag verschwunden und stattdessen fühlte sie sich müde und leer. In ihrem Bauch hatte sich ein ungewohntes Gefühl ausgebreitet und ihre Augen fühlten sich an diesem Morgen unheimlich schwer an.

Sie setzte sich an den Küchentisch, schlang ihre kalten Finger um die gepunktete Porzellantasse und atmete den köstlichen Geruch ihres Tees ein. Ihr Blick wanderte durch das Wohnzimmer und als sie die Gänseblumen sah, die noch immer inmitten ihres Wohnzimmers auf dem Boden lagen, da kam ihr ein Seufzen über die Lippen.

Der Neustart, den sie sich so sehr gewünscht hatte, war kläglich wegen eines Blumenstraußes und ein paar Worten gescheitert und sie verfluchte sich selbst dafür, dass sie nicht so reagierte, wie sie es eigentlich sollte. Sie hatte sich fest vorgenommen, ihn nicht mehr in ihr Leben zu lassen und nicht mehr an ihn zu denken, weshalb sie eigentlich vor lauter Wut an die Decke gehen und die Blumen entsorgen sollte, doch all das fühlte sich falsch an und so blieb ihr nichts anders übrig, als mit trauriger Miene in ihr Wohnzimmer zu sehen und ihren Tee zu schlürfen.

Wie konnte es sein, dass ihr Leben wegen ein paar Worten plötzlich wieder auf dem Kopf stand?

Wie konnte es sein, dass ihr Körper völlig falsch auf die Worte reagierte? Sie war sich so sicher gewesen, dass sie wütend sein würde, wenn sie etwas von ihm hören würde. Sie war sich so sicher gewesen, dass sie niemals mehr ein Wort mit ihm wechseln und ihm zuhören würde, doch in diesem Moment lief alles falsch herum ab. Sie war nicht wütend, sie war nicht glücklich, das Gefühl, das sie in diesem Moment verspürte war schwer zu definieren, aber ganz tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es das falsche Gefühl war.

Ein tiefes Seufzen kam über ihre Lippen. Sie fuhr sich durch das müde Gesicht und strich sich eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr, die sich aus ihrem unordentlichen Knoten gelöst hatte. Ava trank den letzten Schluck ihres Tees, ihr Blick fiel auf das Chaos, das sie noch immer nicht beseitigt hatte und so beschloss sie den Vormittag damit zu verbringen, ihre Wohnung aufzuräumen. Vielleicht würde sie durch das Aufräumen von ihren Gedanken loskommen.

In ihrem Schlafzimmer schlüpfte sie in einen Pullover und in eine gemütliche Jogginghose, sie band ihre Haare zu einem neuen Knoten und als sie im Wohnzimmer das Radio anstellte und die ersten Klänge der Musik ihre Wohnung erfüllten, da waren ihre Gedanken ein wenig klarer. Tanzend bewegte sie sich durch das Wohnzimmer, sammelte die Luftschlangen und das Konfetti ein und hob die Gänseblumen vom Boden auf. Und während sie die eingeknickten Blumen zu retten versuchte, da nahm sie über die Musik hinweg ein Geräusch wahr, das sie bereits gehört hatte. Sie verharrte stumm in ihrer Wohnung, drehte die Musik ein wenig leiser und als sie Schritte hörte, die die Treppe hinabliefen, da führten ihre Schritte sie automatisch in den Flur.

Sie öffnete die Haustüre, doch das Treppenhaus war leer und als sie den Blick senkte, sah sie einen Strauß Lilien. Ihre Hand legte sich um die Stängel der Blumen und während sie den Duft der Lilien einatmete, stieß sie die Haustüre mit ihrer Hüfte zu. Ihre Finger zogen an der Karte, die am Blumenstrauß baumelte und erst als die Lilien neben den Gänseblumen in einer Vase in ihrer Küche standen, da klappte sie die Karte auf.

„Liebe Ava,
du wartest schon viel zu lange auf die Wahrheit. Die richtige Wahrheit. Ich wusste, dass Mike dir erzählt hat, dass ich dich verlassen habe, weil meine Gefühle für dich verschwunden sind. Aber das ist nicht wahr. Ich habe Mike darum gebeten, dir diese Geschichte zu erzählen, weil ich mich für den wahren Grund geschämt habe. Die Wahrheit ist, dass ich dich verlassen habe, weil ich dich vor mir beschützen wollte. Wir haben uns an diesem Tag wegen einer Kleinigkeit gestritten, aber ich habe gesehen, wie verletzt du warst und dabei war es gar nicht meine Schuld. Es war ein Missverständnis und als du mich an diesem Abend angesehen hast, so verletzt und wütend, da habe ich es nicht mehr ausgehalten. In diesem Moment wollte ich nicht, dass ich dich jemals verletze und dir das Herz breche und du mich so ansiehst, wie du es damals getan hast. Denn ich wollte dich vor mir beschützen, aber dadurch habe ich alles nur schlimmer gemacht und all das erreicht, was ich niemals wollte. Es tut mir leid, das musst du mir glauben. Ich wollte dir niemals das Herz brechen, aber in diesem Moment habe ich einfach keinen anderen Weg gesehen. Bitte verzeih mir."

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Dieses Kapitel widme ich englishsoul, weil du es warst, die mich mit deinem Song erst zu dieser Geschichte inspiriert hast. Danke dafür!

[ 27. Januar 2018 ]

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