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Jeden Morgen um 3 Uhr läutet ein Wecker auf der östlichen Seite der Stadt.

Jeden Morgen um 3 Uhr bewegt sich ein Mann Mitte 30 aus seinem warmen, aber doch ziemlich einsamen Bett.

Jeden Morgen um zehn nach drei steht er vor seinem Badezimmerspiegel und fragt sich: „Wofür?"

Er putzt sich die Zähne und überlegt, ob er sich noch rasieren muss. „Einen Tag geht schon noch ohne", denkt er. „Immerhin ist es erst Mittwoch." Josef hat eine Routine, jeden Sonntag und jeden Donnerstag rasiert er sich. Er kann sich nicht mehr daran erinnern, wann oder wie genau dieses Muster entstanden ist, aber er hält sich nun schon fast 15 Jahre daran und wird nicht so schnell damit aufhören. Von duschen am Morgen hält der junge Mann nicht viel. 3 Uhr morgens findet er gerade noch die Motivation, aus dem Bett zu steigen, wie soll er auch noch etwas für lauwarmes Wasser, welches ihm den Rücken hinunterrinnt, aufbringen?

Josef geht in die Küche und hält sich an den nächsten Schritt in seiner Routine: Kaffee. Die Essenz des Lebens, ohne die viele, so auch er, nicht in den Tag starten können.

Eine halbe Stunde lang scrollt er durch seine sozialen Netzwerke, um immer nur das Übliche zu sehen. Babys, Verlobung, Umzug, neuer Job; die Leben der Anderen scheinen um so vieles interessanter als seines.

Um viertel vor vier zieht er sich seine Dienstkleidung und seine Schuhe an, wirft sich eine Jacke über und geht aus seiner Wohnung.

Umweltschützer haben wie üblich sein Auto zu mit Flyern tapeziert, auf denen darauf aufmerksam gemacht wird, dass man gerade in der Stadt kein eigenes Fahrzeug benötige und man auch gut mit den öffentlichen Verkehrsmitteln vorankomme. Doch damit diese netten Menschen mit den Öffentlichen fahren können, um die Umwelt zu schützen, muss Josef zuerst an seinen Arbeitsplatz.

Nicht leicht, so ein Leben als U-Bahn-Fahrer.

Wie an so manchen Tagen steht Sabrina um 3 Uhr morgens vor ihrem Badezimmerspiegel und betrachtet die blauen Flecken, welche einen Großteil ihres Körpers bedecken. Nackt und nur mit einer dünnen Decke bedeckt schläft ihr Mann im Nebenzimmer.

Er ist unvorsichtiger geworden. Diese unförmigen, grünen Kreise wird sie ihren Bekannten nicht als Zeichen der Zuneigung verkaufen können. Um ihren Hals sieht man Fingerabdrücke von den abartigen Liebesspielchen ihres Mannes. Schon als Sabrina zustimmte ihn zu heiraten, wusste sie, auf was für Sachen er im Schlafzimmer steht, aber sein Verhalten geht mittlerweile über Lust hinaus. Es ist ein Ausüben von Macht und sie weiß nicht, wie lange sie es noch aushalten kann. Tag um Tag fragt sich die junge Frau, warum sie ihn nicht endlich verlässt. Jedes Mal, wenn sein Handrücken ihre Wange auf nicht liebevolle Weise berührt und seine Ringe ihre Haut aufreißen, denkt sie daran, dass sie einfach gehen könnte. Und jedes Mal, wenn er ihr die Luft abschnürt und gewaltsam in sie eindringt, fragt sie sich, ob ihr Leben überhaupt noch lebenswert ist.

Aber immer, wenn Christoph ihr ein „Ich liebe dich" ins Ohr flüstert, kann Sabrina nicht anders als zu bleiben. Sie hat Angst davor, dass sie nie wieder jemand lieben kann. Sie weiß, dass ihr Mann sie sicher nicht so liebt, wie sie es sich wünscht. Und sie hat nicht den Mut dazu, ihr Leben wirklich zu beenden.

Nicht, dass sie es nicht versucht hätte.

Sie stellt sich in die Dusche und dreht das Wasser immer heißer, bis es ihr auf der Haut brennt. Sabrina will nichts mehr, als die Berührungen ihres Ehemannes von ihrer Haut zu brennen, aber sie weiß, dass ihre Seele für immer gezeichnet ist.

Mit einem leeren Blickt sieht sie auf die Narben, die an ihren Unterarmen entlanglaufen. Die Ersten entstanden an ihrem ersten Hochzeitstag, ein Tag, der für Eheleute einer der schönsten sein soll, wurde für die junge Frau zu einem der schlimmsten Tage ihres Lebens. Es war das erste Mal, dass er sie für seine Bedürfnisse benutzt hat, ohne auch nur einen Moment an ihre zu denken. An dem Tag hat sie ihr Leben aufgegeben.

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