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Der Preis des Friedens 

Spätsommer 785, nördlich der Elbe beim heutigen Hamburg

Abbio weinte. Es war nur eine einzelne Träne, die sich von seinen Wimpern löste, doch Ausdruck eines tiefen Schmerzes, der sich nun seinen Weg von der Tiefe seiner Seele bis in seine unmittelbaren Emotionen suchte.

Es war ein schöner Tag.

Er zog den Pfeil aus dem Leib des Hasen, wischte ihn am Gras ab und steckte ihn zurück in seinen Köcher. Den Reiter, der am Rande der Lichtung wartete, ignorierte er.

Stattdessen nahm er den erschossenen Hasen hoch und warf ihn sich über die Schulter.

„Ich habe gebetet, dass wir uns nicht wieder sehen", meinte er schließlich.

„Und ich, dass wir uns sehen." Der Reiter ließ sich elegant aus dem Sattel gleiten, wobei seine Rüstung leise klirrte.

„Du bist wie ein fränkischer Panzerreiter gekleidet." Abbio stockte, dann verbesserte er: „Du bist ein fränkischer Panzerreiter. Sie werden dich nicht willkommen heißen, Alwys."  

„Sie? Und was ist mit dir?" Er horchte in sich hinein. Gab es ihn außerhalb seines Volkes überhaupt? Er war sein Volk und somit verabscheute er alles, was Alwys verkörperte. Das fränkische Pferd, den fränkischen Stahl, das kostbare Kettenhemd, das Abbio nie würde besitzen können. 

„Es ist mein Volk, Alwys, mein Lebenszweck. Wotan allein kennt die Anzahl der Panzerreiter, die ich getötet habe und die Anzahl meiner Freunde, die unter ihnen gefallen sind."

Immer noch standen sie sich gegenüber. Dem Augenschein nach mochten nur Gras und ein toter Hase sie trennen, doch in Wirklichkeit, und das wussten sie beide, war es das Blut, das zwischen ihren Völkern geflossen war, das diese Begegnung so unwirklich erschienen ließ.

Sachse und Hesse, allein verbunden durch das dünne Band einer gemeinsamen Geschichte.

„Alwys!" Abbio trat einen Schritt vor. „Sie werden dich nicht dulden. Sie werden deinen Tod verlangen."

Er war so jung, fast noch ein Kind und doch gekleidet in die Zeichen des Krieges.

„Ich bin gekommen, um mit Widukind zu sprechen." Der Name klang seltsam auf seiner hessischen Zunge und doch vernahm Abbio darin den Hauch eines sächsischen Akzents, ein Überbleibsel der Zeit, als Alwys ein Sklave in Widukinds Haushalt gewesen war. Ein Sklave, gefangen genommen im Jahr 774, als die Sachsen als Rache für Karls Einfall in ihr Kernland zwei Jahre zuvor in Hessen einmarschiert waren. Damals war Abbio ein junger, idealistischer Krieger gewesen, der jenem Westfalen Widukind gefolgt war, der nun der meistgesuchte Sachse war. Alwys, ein junger Novize im Kloster Fritzlar. Abbio war es gewesen, der den Jungen vor dem Tod bewahrt hatte. Anscheinend sollte er dies nun wieder tun. Sollte.

Er tat noch einen Schritt. Das Pferd schnaubte laut. Nun konnte er Alwys direkt in die Augen sehen. So jung.

„Er wird dich empfangen", meinte er leise, „Aber er wird dich nicht wieder gehen lassen, das lässt seine Ehre nicht zu."

„Er wird mich gehen lassen", entgegnete der junge Panzerreiter so selbstsicher, dass Abbio ihn überrascht musterte. Was hatte ihn zum Mann gemacht? Die Schlachten, von denen Abbio wusste, dass er dort gekämpft hatte? Die Last der Verantwortung?

„Du magst seine Kinder damals gerettet haben, aber du bist immer noch sein Feind, vergiss es nicht", warnte er ihn leise.

Alwys griff nach den Zügeln seines Pferdes, das zu grasen begonnen hatte.

Mein Beitrag zum Ideenzauber 2019Where stories live. Discover now