10. Kapitel - Stille

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Es vergingen vier Tage der Monotonie, in denen ich mich mit knurrendem Magen um die Menschen dort draußen kümmerte, von denen sich einige ganz unscheinbar in mein Herz schlichen. Ich sah Malek dabei zu, wie er sich immer häufiger aufsetzte und unseren Gesprächen lauschte, während Aadil in meinen oder den Armen meines großen Bruders lag und uns lächelnd beobachtete. Es gab Momente, in denen mich die Gesichter meiner beiden Brüder an die meiner Eltern erinnerte und meine Gedanken erschrocken zusammenzuckten. Es war, als würden wir Muma und Papa mit jedem Meter, den wir uns Griechenland näherten, mehr verlieren. Es fühlte sich an, als würden wir sie im Stich lassen.

In der Nacht, in der wir ankamen, waren alle auf dem Boot mucksmäuschenstill, jeder starrte auf die dunklen Umrisse des Stegs, dem wir uns näherten, aber wenn ich ihren Blicken begegnete, war es, als könnte ich ihren müden Gedanken lauschen.

Mit einem lauten Rumsen stieß das Boot gegen den Steg Piräus, während ich den Atem anhielt und mein Herz aufgeregt gegen die Innenseiten meines Brustkorbes schlug. Ich sah hinüber zu Tarek und Ryan, die Malek von beiden Seiten stützten. Wir hatten unsere Rucksäcke auf unsere Rücken geschnallt, selbst Malek. Aadil hingegen lag an meiner Brust und schaute sich neugierig um.

„Malek?", wisperte ich, aber anscheinend wusste er bereits, was ich fragen wollte, denn mein großer Bruder antwortete mir, noch bevor ich etwas hinzufügen konnte. „Zwei Uhr vierundvierzig." Ich nickte, bevor mein Blick zurück zu den Menschen vor mir glitt, die nacheinander vom Boot auf den Steg traten. Ich sah die Unsicherheit in ihren Schritten und die Skepsis in ihren zweifelnden Blicken. Wir hatten gelernt, auf der Hut zu sein. Wir hatten verstanden, dass es noch eine Weile dauern würde, bis wir irgendwo zur Ruhe kommen dürften. Das Gefühl ständiger Angst nagte auch in diesem Moment an unser aller Glauben und rüttelte so stark an unseren Hoffnungen, dass wir uns ängstlich an die Dinge klammerten, die bleiben würden, die beständig waren.

Wir laufen in der Hoffnung, ein Ziel zu finden.

Durch die schüchterne Geschwindigkeit der Leute wurde die Schlange vor mir nur langsam kleiner und ich biss mir nervös auf die Unterlippe. Es hatten sich automatisch zwei chaotische Reihen gebildet, die sich gegenseitig dabei halfen, auf den Steg zu gelangen. Als wir weiter vorrückten, schrillte die Angst, dass das hier alles nur eine Einbildung war, durch meinen Körper und sorgte dafür, dass meine Hände anfingen zu zittern. Das alles erschien so weit entfernt. Als wäre der Steg ein weiteres Meer, das es zu überqueren galt.

Die Angst, dass die guten Dinge nicht echt waren, ließ mich nicht los. Sie wich nicht von meiner Seite. Steckte in jedem Teil meines Körpers und wachte über meine Gedanken.

Die Angst vor der Angst ist vermutlich die größte Angst.

Das leise Plätschern der Wellen, die leicht gegen den Steg schwappten, durchbrach die Stille und ich hob den Blick.

„Kann ich euch ein Stück begleiten?", fragte Tarek plötzlich und ich fuhr erschrocken zusammen. „Was?" Maleks Augenbrauen schossen in die Höhe.
„Ich habe gefragt, ob", wiederholte Tarek, wurde jedoch durch Ryans Hand, die sich beruhigend auf seine Schulter legte, unterbrochen. „Ich hab mich schon gefragt, wann du deine Gedanken endlich mal aussprichst. War ja kaum auszuhalten."

Malek blickte überrascht zu Ryan, während wir nur noch wenige Schritte vom Steg entfernt waren und sich ein Lächeln auf meine Lippen legte.

„Ist das ein Ja?" Tarek sah uns nacheinander an und ich nickte als Antwort. „Klar."

Weitere Minuten verstrichen, bis Ryan an der Reihe war und geschickt vom Boot sprang, bevor er Malek hinaus half. Nichts veränderte sich. Es wurde nicht heller oder dunkler. Nicht schöner oder schrecklicher.

Ryan streckte mir seine Hand entgegen, damit ich ebenfalls über das Boot, auf die andere Seite klettern konnte und auch diesmal änderte sich nichts.

Nachdem Tarek festen Boden unter den Füßen hatte, hielt er für einen Moment inne und starrte auf seine Hände hinab. Sie zitterten.

Als er meinen Blick bemerkte, zuckte sein Kiefer, ehe er sich umdrehte und der älteren Frau, die hinter ihm in der Reihe gestanden hatte, aus dem Boot half. Sie lächelte ihn dankbar an und lief mit geduckter Haltung den Steg entlang.

Alleine.

Ich schaute ihr nachdenklich nach. „Und was jetzt?", sprach Malek einen der vielen Gedanken in meinem Kopf aus. Viele der anderen verharrten auf oder am Ende des Stegs, als würden sie auf jemanden warten. Vielleicht wollten sie sich aber auch einfach nur einer Gruppe anschließen, um nachts nicht völlig alleine durch die Gassen zu laufen. Ich hätte es genauso gemacht, aber trotzdem sollten wir nur in kleinen Gruppen weitergehen. Sonst würden wir auffallen.

„Wir werden ein Stück mit den anderen gehen", erklärte Ryan, der nachdenklich auf das dunkle Meer in die Richtung unserer Heimat hinaussah. Ich konzentrierte mich wieder auf Malek.

„Wir werden sicher bei Oma ankommen", wisperte ich. Ich wusste nicht, ob wir lebendig bei unserer Großmutter ankommen würden, aber je stärker ich mich an diesem Gedanken festhielt, desto mehr Ruhe kehrte in mir ein.

„Wo wohnt sie?" Meine Augen zuckten zu Tarek, der neben mir stand und mich fragend anschaute.

„In Nestoros. Hinter Athen", erwiderte ich und er nickte leicht. „Das schaffen wir." Er fragte nicht, wo er hingehen sollte, wenn wir bei meiner Großmutter angekommen waren. Er wollte einfach weiter. Wohin war egal. Ich lächelte, als mir klar wurde, dass ich dieses Gefühl kannte.

Sekunden vergingen, in denen wir den restlichen Menschen dabei zusahen, wie sie das Boot verließen. Zwei Männer kletterten gleichzeitig auf den Steg, wobei sie gefährlich aneinandergerieten. Vorsichtig umfasste ich die Hand des älteren Mannes und zog ihn auf meine Seite. Aadil musterte ihn mit gerunzelter Stirn, während mein Blick auf den anderen jüngeren fiel, der mich für wenige Sekunden fixierte, bevor er sich aufrichtete und den Steg entlangrannte. Verwirrt starrte ich ihm nach, bis auch ihn die Finsternis verschluckte. Die Wahrscheinlichkeit, ihn irgendwann wiederzusehen, war so gering, wie ein Regentropfen zwei Mal auf die selbe Stelle traf.

„Vielen Dank." Der ältere Mann schenkte mir ein Lächeln und ich nickte, bevor ich zurück zu den anderen ging. Ryans Augen lagen aufmerksam auf mir, während ein Lächeln auf seinen Lippen lag. Er hatte es irgendwie geschafft Malek auf seinen Rücken zu bekommen und drehte sich nun in die Richtung der Häuser.

Zügig schloss ich den Abstand zwischen uns und schritt wortlos hinter ihnen her. Aufregung flutete meine Gedanken und rauschte durch meine Adern, als ich kurz die Augen schloss und meine Lippen auf Aadils Stirn drückte, ehe ich grinsend in die Arme unserer neuen Heimat lief.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenOù les histoires vivent. Découvrez maintenant