21. Kapitel - Zeit

936 97 29
                                    

Als wir zurückgingen, schien die Sonne hell durch die Wolkendecke und die Hitze knallte auf die Dächer der umstehenden Häuser. Da Oma entschieden hatte, noch zum Geldautomaten zu gehen, damit wir zumindest eine Zeit lang für uns würden sorgen können.

Sie redete bereits seit einigen Minuten über die vergangenen Jahre, in denen ich nicht da gewesen war, und auch wenn ich mich versuchte, auf ihre Worte zu konzentrieren, verlor ich mich immer wieder in meinen eigenen Gedanken.

Es würde lange dauern, bis ich mich wieder an diese Art von Leben gewöhnt hatte, denn das Gefühl abzulegen, jeden Moment erneut zu flüchten, würde Zeit brauchen.

Es würde Zeit brauchen, zu verstehen, was passiert war.

Als wir das Restaurant betraten, saßen Tarek, Ryan und Malek an einem der Tische und unterhielten sich, sodass sie uns zuerst nicht bemerkten. Erst als die Tür hinter uns ins Schloss fiel und ich erkannte, dass Aadil in Maleks Armen schlief, folgten ihre Köpfe in unsere Richtung.

„Hey", begrüßte ich sie, etwas verwirrt über ihre überraschten Blicke.

„Habt ihr den Zettel gefunden?", fragte Oma und ließ die Einkaufstaschen auf den Boden gleiten, ehe sie zu ihnen ging.

„Ja, aber warum seid ihr so spät?", erwiderte Malek und klang seltsam angespannt. Sofort fing ich an mir Sorgen zu machen.

„Was ist denn los?" Irritiert zog ich die Augenbrauen zusammen und folgte meiner Großmutter.

„Du hast Callisto verpasst", antwortete Tarek und ich hob erstaunt die Augenbrauen. „Er war schon hier?"

Ryan nickte und ich hielt den Atem an. Sie wussten bereits, wie es weitergehen würde. Alle drei wussten, ob wir mit nach England gehen würden.

„Kommen wir mit?" Mein Herz klopfte bei dieser Frage aufgeregt gegen meinen Brustkorb und ich merkte, wie sich meine Nägel automatisch wieder in meine Handflächen bohrten.

„Ja. Wir werden morgen mitfahren", erklärte Malek und ich hielt den Atem an, aber bevor ich weiter nachhaken konnte, fiel mir auf, wie blass Malek war. Seine eine Hand lag auf dem Tisch, die andere ruhte jedoch auf seinem verletzten Bein, als hätte er Schmerzen. „Wir sollten den Verband wechseln", schlug ich vor und widerstand dem Drang nach weiteren Details zu fragen.

Zu meinem Erstaunen wehrte sich Malek nicht, sondern nickte stattdessen zustimmend. Er musste schlimme Schmerzen haben, wenn er sich freiwillig von anderen helfen ließ.

„Gib ihn mir", meldete sich Ryan zu Wort, als er meinen nachdenklichen Blick bemerkte, der auf Aadil gerichtet war. Ein schwaches Lächeln legte sich auf meine Lippen, ehe ich Aadil aus Maleks Armen nahm und ihn in Ryans legte. Gemeinsam mit Malek, der sich an meiner Schulter abstützte, gingen wir ins Gäste-WC, in der Hoffnung dort die nötigen Utensilien zu finden.

Vorsichtig schob ich den Holzhocker unter dem Waschbecken hervor und Malek ließ sich auf ihn sinken. Sein Gesicht wirkte ausdruckslos, aber ich sah, dass er Angst hatte, da sich seine Finger unruhig in die Ränder des Stuhls krallten. Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen, als würde er sich daran erinnern wollen, dass der Schmerz vergehen würde.

Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Die Hilflosigkeit schlug in meinem Kopf Wurzeln und ich geriet in Panik, aber noch bevor ich irgendetwas tun konnte, legte Ryan seine Hände auf meine Schultern und schob sich sanft an mir vorbei. „Ich übernehme das."

Ich nickte leicht, während ich vor Malek in die Hocke ging und meine Hand auf seine legte. „Hey", wisperte ich,

„Habt ihr Desinfektionsmittel und Fixierbinden", richtete sich Ryan mit ruhiger Stimme an meine Großmutter, die sich nicht über die Türschwelle zu trauen schien. Sie nickte. „Ja, in der ersten Schublade." Sie wollte auf den Schrank zugehen, in dem sich die Sachen befanden, aber Ryan hatte ihn bereits erreicht, also wanderte ihr Blick zurück zu Malek. Ich sah die Frage in ihren Augen. In ihrer Haltung. In den Furchen auf ihrer Stirn.

Warum hat ein fremder Mann auf meinen Enkel geschossen?

„Also Malek." Ryan musterte Malek, der die Augen wieder öffnete, und deutete auf seine Hose. „Die müsstest du ausziehen."

Malek nickte und ich half ihm dabei, sich die Hose bis über die Knie zu ziehen. Der Verband, den Ryan aus den Dingen gebastelt hatte, die uns auf dem Boot zur Verfügung gestanden hatten, saß nicht mehr so, wie er sitzen sollte.

Während Ryan den alten Verband abwickelte und die Wunde desinfizierte, um sie neu zu verbinden, lag Maleks Blick auf mir. Seine Augenlider waren vor Müdigkeit leicht gesenkt. Ich drückte sanft seine Hand, um ihn daran zu erinnern, dass ich bei ihm war.

„Wo sind Aadil und Tarek?", fragte ich in den schweigenden Raum hinein und schaute dabei kurz zu Oma.

„Tarek ist mit Aadil draußen geblieben", antwortete sie und ich nickte.

Die Zeit stahl uns weitere Minuten, bevor Ryan sich seufzend zurücklehnte und den neuen Verband betrachtete.

„Hier", Oma reichte Ryan eine der Hosen, die wir für Malek gekauft hatten, und er nahm sie entgegen.„Die müsste passen."

Ich sah, wie sich Maleks Kieferknochen anspannten und sein Griff um meine Hand stärker wurde, als Ryan ihm vorsichtig die neue Hose anzog.

„Du kannst dich an mir abstützen", bot ich an, als Malek versuchte sich am Hocker hochzustemmen und er nickte.

Zusammen schafften wir es, die Treppe hinaufzugehen und Malek zurück ins Bett zu bekommen.  „Du versuchst jetzt zu schlafen und ich weck dich, sobald es Essen gibt, okay?", bat ich ihn und er lächelte erschöpft, während er nickte.

„Kannst du dich zu mir legen?", fragte Malek und ich hob überrascht die Augenbrauen. Einige Sekunden vergingen, in denen ich über seine Worte nachdachte, bis ich die Decke zur Seite schlug und mich neben ihn legte. „Klar."

***

Etwas berührte mich an der Schulter, sodass ich erschrocken die Augen öffnete und mich desorientiert umsah. Kurz hatte ich vergessen, wo ich war und was passiert war, bis ich Malek neben mir entdeckte.

Ich war eingeschlafen.

Mein Herz pumpte Adrenalin durch die Adern, bei dem Gedanken, dass ich mehrere Stunden verloren hatte, in denen ich für morgen alles hatte vorbereiten können.

„Aleyna." Mein Blick zuckte zur anderen Seite und ich erkannte Tarek, der vor dem Bett stand und zu mir hinunterschaute.

„Wie lange habe ich geschlafen?", fragte ich leise und er richtete sich wieder auf, ehe er mir andeutete, ihm zu folgen. Vermutlich wollte er nicht, dass wir Malek störten.

Als Tarek bereits an der Treppe angekommen war, sah ich, dass er sich bereits umgezogen hatte. Er trug eine blauverwaschene Jeans und ein graues T-Shirt. „Du hast vier Stunden geschlafen", erklärte er, während wir nacheinander die Treppe hinunterliefen.

„Scheiße", fluchte ich und spürte, wie mir bei der schnellen Bewegung schwarz vor Augen wurde. Als wir unten angekommen waren, hielt ich mich kurz am Treppengeländer festhielt, damit sich meine Atmung wieder normalisierte.

„Alles in Ordnung?" Tarek trat neben mich und ich lächelte, als ich sah, dass er sich Sorgen machte. „Nicht wirklich, nein, aber es geht wieder", antwortete ich ehrlich und lief an ihm vorbei, in die Richtung meiner Großmutter, die ich hinter der Theke entdeckt hatte. Mehrere Teller mit dampfendem Essen standen vor ihr und mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich erkannte, dass sie Moussaka für uns zubereitet hatte.

„Sollten wir Malek nicht auch wecken, wenn wir jetzt essen?", richtete ich mich an Tarek, der neben meine Großmutter getreten war und nach den Tellern griff.

„Wenn alles gedeckt ist, hol ich ihn, okay?", erwiderte er und ich nickte, während ich mich suchend umblickte. Als ich Ryan mit Aadil auf der Terrasse entdeckte, stolperte mein Herz erschrocken. Für einen Moment stand ich einfach nur da und starrte Aadil an, dessen Lachen bis zu uns drang, ehe meine Augen zu Ryan wanderten, der sich ganz auf Aadil zu konzentrieren schien. Auch auf seinen Lippen lag ein breites Grinsen.

Am liebsten wäre ich zu ihnen gegangen, um Teil ihrer Freude sein zu können, aber stattdessen widerstand ich dem Drang und half Tarek und Oma dabei den Tisch zu decken.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWhere stories live. Discover now