Fünfundvierzig

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Sie steht wieder auf der Waage.
Sie tut das viel zu oft und ihr ganzer Körper zittert wie Espenlaub, aber es ist nicht das kalte Metall und auch nicht der Hunger, es ist das fehlende Etwas - das Gefühl glücklich zu sein.

Wenn man neun Jahre alt ist und die erste Staffel von Hannah Montana über den Fernseher flackert, wünscht man sich nichts mehr, als endlich erwachsen zu werden. Mit sechzehn, reimt sich das kleine naive Kinderhirn zusammen, würde man mit einem Jungen ausgehen, auf Partys gehen, ein Handy haben das mehrmals in der Stunde aufleuchtet weil irgendwo anders unbesorgte Jugendliche sitzen, die an einen denken.

Doch in Wahrheit ist man plötzlich siebzehn und realisiert, dass man die Jahre, die in jedem Film als die schönste Zeit des Lebens dargestellt wird, vergeudet indem man weinend die symmetrischen Gesichter von Personen sieht, die man nie sein wird, und seine Haut permanent mit rosa leuchtenden Linien zerstört, die man im Sommer mit langen Ärmeln verdecken muss.

Manchmal, wenn ihr Hals nicht wehtut weil ihr abgerissener Fingernagel zu oft an ihrer Kehle gekratzt hatte, fragt sie sich, wann sie das letzte Mal einschläft.
Das aller letzte Mal.

Damals war sie stolz darauf im kleinen, stickigen Klassenzimmer über fünfhundert zählen zu können.
Heute ist alles über fünfhundert der Grund für eine zu hohe Wasserrechnung, denn obwohl sie stolz auf das sein will, was sie im Spiegel sieht, schämt sie sich für die Geräusche und dass sie hofft, von dem Geschmack auf ihrer Zunge so angeekelt zu sein, dass ihr Magen weiter den Inhalt ihres Tellers aufstößt.

Fünfzig.
Sie möchte ihre Körperteile austauschen und glücklich sein.

Neunundvierzig.
Sie möchte wieder klein sein und sich nicht widerlich fühlen, wenn sie das macht, was die Menschheit seit hunderttausend Jahren am Leben hält.

Achtundvierzig.
Sie möchte das Mädchen sein, das sie in ihren Träumen sieht.

Siebenundvierzig.
Sie möchte nicht sterben, wenn die Waage fünfzig anzeigt.

Sechsundvierzig.
Sie möchte Schokoladentorte essen, denn am Ende des Tages ist es sowieso egal wenn das Wasser wieder läuft und ihr Herz bricht.

Fünfundvierzig.
Sie möchte, dass die fünfundvierzig alles ändern wird, aber hat Angst, sich noch immer so traurig zu fühlen, wenn sie diese Zahl sehen wird.

Ich.Where stories live. Discover now