Ich.

Sebastian

Manchmal schaute sie aus dem Fenster und fragte sich, ob die Kinder in den anderen Häusern genauso traurig waren wie sie.
„Saf?"
Ihr Bruder stand in einem dunkelgrün karierten Pyjama an der Türschwelle und betrachtete seine kleine Schwester, die sich im Nachthemd über den Fenstersims beugte und durch die Fensterscheibe auf der anderen Straßenseite die Nachbarsfamilie vor dem Kamin ein Brettspiel spielen sehen konnte.
„Hast du wieder schlecht geschlafen?" Saf schüttelte den Kopf.
„Hast du überhaupt schon geschlafen?" Wieder schüttelte Saf den Kopf. Sebastian seufzte und klopfte ihr Federkissen aus. Eine furchtbare Traurigkeit hatte sich über ihre kleinen Seelen gelegt wie der weiße Teppich an Schnee über die Stadt, und Sebastian wusste, dass Saf nicht einschlafen konnte, solange ihr Vater nicht zuhause war. Egal, wie schwer ihre Augenlider waren.
Gerade, als sich Saf auf das Bett plumpsen wollte, hörte sie unten die schwere Tür ins Schloss fallen.
„Papa ist wieder da", flüsterte Sebastian und lächelte. Er lächelte, breit und strahlend, doch in seinem tiefsten Inneren wusste er, dass er sich nie wieder freuen konnte, das Gesicht seines Vaters zu sehen.
„Ist Papa wieder wütend?", fragte Saf leise und schlüpfte unter die warme Decke
.Sebastian antwortete nicht. Die laute Stimme von ihrem Vater, das durch das Haus hallte, war Antwort genug. Als er das Buch aufschlug, das auf ihrem Nachttisch lag, tanzten Staubkörner in der Luft, und seine beruhigende Stimme übertönte mit den Abenteuern von Indiana Jones die Kulisse von den Gläsern, die auf den Küchenboden fielen, und sich fast so wie Vögel im Dschungel anhörten.
Doch dieses Mal war alles anders. Papa wollte kein Fernsehen gucken und auch kein Bier trinken und Mama konnte seine Stimmung auch nicht mit seinem Lieblingsgericht besänftigen.
Sebastian und Saf hörten beide das Flehen, das Schreien, die Geräusche, und beide sahen das Blut, das am Boden klebte – und an Papas Händen.

Dezember 2016