Kapitel 1

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Viele schon hat die Neugier tatsächlich umgebracht.

- Erhard Blanck -

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Ich halte diesen fremdartigen, silberschwarzen Schlüssel fest in der Hand, obwohl er mich immer tiefer in einen finsteren, endlosen Strudel aus Schwärze zieht. Doch ich kann mich nicht dazu veranlassen, meinen Griff zu lockern. Es ist wie ein Zwang. Ich habe zu viel Angst davor, den Halt zu verlieren, noch tiefer zu fallen und nie wieder aufzusteigen. Angst – wie so oft.

⠀Mein Körper rast durch ein dunkles, pulsierendes Nichts ohne Horizont; es dauert nur wenige Augenblicke und ich weiß nicht mehr, wo oben und wo unten ist. Nirgendwo lassen sich Anhaltspunkte ausmachen, alles sieht gleich aus. Tiefschwarze, nebelige Schleier wabern an mir vorbei. Sie erinnern mich an Tinte, die in Wasser geträufelt wird; leicht, spielerisch, düster.

⠀Plötzlich fährt ein Ruck durch meinen Körper und ich schwebe mit federleichter Schwerelosigkeit durch die dunklen Schwaden. Ich gewinne die Kontrolle über meine Gliedmaßen zurück. Ob ich die Richtung meines Weges nun selbst bestimmen kann? Ob ich mehr sehen kann, wenn ich mich endlich dazu durchringe, die Augen weiter zu öffnen und über den Kranz meiner Wimpern hinweg zu blicken? Ob ich jemals irgendwo landen werde – oder fliege ich nun immer weiter durch die Unendlichkeit, ohne zu spüren, wie die Zeit verrinnt?
⠀Ich denke an all die Menschen, die ich aus eigenem Willen zurück gelassen habe, denke an die Dinge, die ich noch habe erreichen wollen. Ist es dafür nun zu spät? Habe ich mit diesem einen, verhängnisvollen Schritt zu viel gewagt?

Deine Neugier, hat mein Vater einmal gesagt, ist Fluch und Segen zugleich. Du lernst von ihr, nährst dein Wissen und siehst vielleicht Dinge, die kein anderer Zauberer je zuvor gesehen hat – doch sie kann auch dein jähes Ende bedeuten. Denke daran, bevor du dich selbst ins Unheil stürzt, Louis. Bevor es keinen Weg zurück gibt. Wie immer erreicht mich die Einsicht viel zu spät: Vor mir liegt nur noch einsame Dunkelheit.


Der junge Zauberer Louis Weasley war immer schon von besonders neugieriger Natur gewesen; bereits als Kleinkind hatte er den Tag mit zehn Fragen begonnen und mit weiteren zehn beendet. Er hatte stets unermüdlich Antworten gefordert und war den Dingen selbst auf den Grund gegangen, wenn ihn die Auskünfte seiner Angehörigen nicht zufrieden gestellt hatten. Zwar war er dazu immer ein sehr verunsicherter, ängstlicher Junge gewesen, doch die Neugier war das einzige, was ihn dazu gedrängt hatte, sich selbst zu überwinden – und hatte ihn somit mehr als einmal in fürchterliche Schwierigkeiten gebracht.

⠀An seinem vierten Geburtstag wollte er wissen, ob Tante Hermines steinalter Kater Krummbein so laut fauchen konnte wie die überfütterte Nachbarkatze der alten Mrs. Vance und zog ihm während seiner Überlegungen einmal ungehobelt am ausgefransten Schwanz. Die Rache dafür waren blutige Kratzer und brennende Bisswunden, die als Strafe für seine Ungezogenheit auf Muggelart hatten heilen müssen. Im Gegensatz zu ihm schien Krummbein mit diesem Ausgangspunkt äußerst zufrieden zu sein; seitdem wedelte er ständig vor Louis' Augen provokativ mit seinem Schwanz. Seitdem waren sich die beiden äußerst unsympathisch.

⠀Mit neun Jahren war Louis kopfüber in die große Regentonne gefallen, die am Schuppen hinter dem Fuchsbau stand – und das nur, weil er unbedingt selbst nachsehen wollte, ob nicht wider Erwartungen vielleicht doch ein paar hübsche Fische darin schwammen. Und erst, als er kaum noch Luft bekommen und Großvater Arthur ihn in der letzten Sekunde hatte retten können, war er endlich zu dem Schluss gekommen, dass die Regentonne wirklichnicht von Fischen bewohnt wurde. Warum eigentlich nicht?

⠀Kurz nachdem er dreizehn Jahre alt geworden war, hatte er auf eigene Faust Erkundungen in den Winkeln und Korridoren Hogwarts' angestellt und hatte schließlich sogar den gut behüteten Geheimgang zum Gemeinschaftsraum der Slytherins gefunden; beinahe hätte er mit dem berüchtigten Feuerpustel-Fluch Bekanntschaft gemacht, den Thornton Nott, Frederic Flint und Darius Goyle gerne an ihren Mitschülern erprobten, wenn gerade keine Lehrkraft hinschaute. Doch da er zu seiner Neugier glücklicherweise auch sehr flink war, war er gerade einmal mit einer kleinen Schramme am Knie davon gekommen, die er sich auf den steinernen Treppenstufen des Schlosses zugezogen hatte.

aeternumWhere stories live. Discover now