Prolog

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Ein wundervoller, nahezu perfekter Tag neigte sich dem Ende.

Es dämmerte. Die untergehende Sonne ließ einen dunkelroten Schleier über dem noch annähernd als blau zu erkennenden Abendhimmel zurück. Die Welt um sie herum schien sich auf den Abend vorzubereiten, den vergangenen Tag mit all seinen Ereignissen Revue passieren zu lassen. Stille umgab sie.

Nicht die Stille im eigentlichen Sinne, sondern eher dieses Gefühl von Ruhe, wie es nur Städter empfinden können: obwohl die Singschwäne auf den entfernten Feldern ihr abendliches Konzert einstimmten, ein Greifvogel über ihren Köpfen beim Anblick eines im Feld huschenden Abendmahls vor Freude schrie, und das nicht sehr entfernte Rauschen des Wassers überdeutlich zu hören war, wenn das Fließ an einem Wehr den Abhang hinunter fällt, empfanden Ellen und Peter dies hier als Stille. Dies war der Grund, warum sie sich gern um diese Tageszeit hier aufhielten.

Durch Berlin hallten in diesem Augenblick der Lärm der allabendlichen Rush Hour, der Tausenden von Autos auf dem Heimweg mit ihren hupenden, vor Stress schimpfenden Insassen, das Quietschen der Kräne und anderen Maschinen auf den Baustellen, die in nahezu jeder Straße der Millionenmetropole zu finden waren.

Aus diesem Grunde empfanden nicht nur die beiden Verliebten den Lärm vom Land schlicht als ersehnte und beruhigende Erholung. Jedes Jahr zog es mehr Urlauber aus der Stadt und in das einmalige Naturgebiet des Spreewalds.

Selbst der melodische, aber überlaute Gesang der Amsel, die gerade auf Paarungssuche alles aus ihrer Kehle herausholte, störte nicht ihr Empfinden der absoluten Ruhe und Zufriedenheit.

»Ich liebe dich«, flüsterte Ellen ihrem Frischvermählten ins Ohr. Eng umschlungen spazierten sie nun seit fast zwei Stunden entlang von Feldern, durch kleine Wäldchen, deren Baumkronen schon mit einem Hauch von Grün überzogen waren und längs sachte dahin gleitender Fließe, wie die für den Spreewald typischen Flussarme der Spree genannt werden, bevor sie anschließend zum Dinner in ihr Resort zurückkehren würden. Ein allabendliches Ritual in ihrem einwöchigen Urlaub in einem der schönsten Dörfer südlich von Berlin, welcher nur ein Vorgeschmack auf die tatsächlichen Flitterwochen im nächsten Jahren sein sollte. Für die geplante vierwöchige Reise nach Australien mussten sie noch ein gutes Jahr sparen. Außerdem hätte Ellen im Moment nicht vier Wochen dem Büro fernbleiben können. Für den Augenblick war ihnen eine Woche Spreewald angemessen erschienen, finanziell nicht wesentlich belastend, nur eine gute Stunde von Berlin entfernt. Morgens lange schlafen, tagsüber Golf spielen, Fahrradtouren, gutes Essen, und am Abend spazieren gehen. Perfekt.

»Ich liebe dich auch. Bist du glücklich?« Peter vergewisserte sich, denn ein wenig plagte ihn das schlechte Gewissen, da er seiner Angebeteten nicht heute schon Australien bieten konnte.

»Natürlich.« Ellens Antwort klang ehrlich und Peter verscheuchte wieder und wieder aufkommende Zweifel gleich. Warum sonst hätte sie ihn heiraten sollen, wenn sie ihn nicht liebte? Es lag einfach in seiner Natur, das Gute zu hinterfragen und vorsichtig zu sein, wenn etwas zu gut war. So wie diese Frau, die ohne Zögern »Ja« gesagt hatte, als er sie gefragt hatte, ob sie ihn heiraten mochte. Die Überlegungen im Vorfeld dieses Schrittes waren ebenso geprägt gewesen von Zweifeln und der Angst, es wäre noch zu früh. Schließlich kannten sie sich erst seit einem knappen Jahr.

Tief in Gedanken versunken, bogen sie von der Straße auf einen Sandweg ab, der weniger die Bezeichnung eines Weges verdiente, sondern augenscheinlich nur als abgelegener Trampelpfad benutzt wurde. Tiefe Schlaglöcher bildeten unansehnliche braun-graue Pfützen oder Schlammlöcher, die die Liebenden geschickt umgingen. Nach einigen Schritten kamen sie an einen kleinen See. Ruhig und nahezu unbewegt wie eine Spiegelfläche lag die Wasseroberfläche vor ihnen. Mit noch braunem und unschön anzuschauendem Schilf umsäumt, welches sich im leichten Wind kaum merklich bewegte. Langsam schob sich undurchdringlicher Nebel aus dem Schilf auf den See und legte sich über das Wasser, als wolle er es zudecken. Peter entdeckte am Rande des Sees, zwischen dem braunen, dichten Schilf - dennoch gut zu erkennen - einen Nutria. Das auf den ersten Blick einem Biber ähnlich sehende Nagetier beachtete die beiden Spaziergänger nicht, sondern stupste hochkonzentriert mit seiner Nase durch das zum Teil schon frische, grün und saftig wirkende Gras. Gerade wollte Peter seine Frau auf die putzige Entdeckung aufmerksam machen, als diese umvermittelt stehen blieb, den Blick starr nach vorn gerichtet.

»Was hast du?«, fragte er sie, erschrocken über den beunruhigenden Ausdruck in ihrem Gesicht, und verfolgte im gleichen Moment ihren Blick. Dann sah er es auch und ihm blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen.

»Was ist das?« Nicht mehr als ein Flüstern verließ seine Kehle. Er traute sich nicht, ein lautes Wort zu verlieren, aus Angst, das Wesen zu verschrecken.

Ein Wesen.

Oder ein Engel?

Keine zwanzig Schritte vor ihnen stand eine schimmernde Gestalt. Nicht groß. Zierlich. Sie erinnerte allenfalls an ein Kind. In einem weißen, fast durchscheinenden Kleid. Es wehte sachte im leichten Wind. Das letzte Licht der untergehenden Sonne ließ das Wesen beinahe durchsichtig erscheinen. Es stand einfach da und starrte auf das ruhige Wasser. Es bemerkte die Spaziergänger nicht.

»Ein Geist«, sprach Ellen laut aus, was ihnen beiden im Moment durch den Kopf ging. Nur hatte Peter sich nicht getraut, es laut auszusprechen.

Spielten ihnen das Dämmerlicht, der Nebel und die Mystik der Umgebung einen Streich?

Als wären sie von dem Anblick gebannt und unfähig sich zu bewegen, standen sie nebeneinander, die Figur vor sich anstarrend. Wenn Peter es nicht besser wüsste, hätte er behauptet, alles um ihn würde in Zeitlupe ablaufen.

»Warte«, flüsterte Ellen ihm zu, als Peter sich anschickte, langsam in Richtung ihrer Beobachtung zu gehen. Ohne sich zu seiner Frau umzudrehen, winkte er ab und ging stetig, aber übertrieben langsam, einen Fuß vor den anderen setzend den Schotterweg weiter. Seine Neugier trieb ihn an.

Unter seinen Füßen knirschten die kleinen Kieselsteine und die Geräusche erschreckten plötzlich das geisterhafte Wesen. Es schaute ihm direkt ins Gesicht.

Große, runde, dunkle Augen sahen ihn an. Wie die von einem Kind. Die Pupillen schienen auf unnatürliche Weise geweitet.

Peter erstarrte.

Was - zum Teufel - war das?

Einen kurzen Augenblick standen sie sich, nur wenige Meter voneinander entfernt, gegenüber und fixierten sich.

Peter gestattete sich einen Blick über die Schulter zu seiner Frau, die unbewegt einige Schritte hinter ihm stand, beide Hände vor Schrecken an den Mund gelegt. Hinter den fest geschlossenen Fingern stieß sie einen kurzen, aber schrillen Schrei aus und als Peter sich wieder nach vorn drehte, erblickte er nur noch das davon schwebende, weiße Nachthemd, das zwischen den Büschen und Sträuchern verschwand.

Die Mittagsfrau - Spreewald ThrillerМесто, где живут истории. Откройте их для себя