Kapitel 1

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»Und obwohl sie schon seit fast zehn Jahren tot ist, erzählen die Leute immer noch, sie in ihrem weißen Nachthemd am Steg gesehen zu haben.«

Hanka erkannte die kratzige Stimme ihres Sohnes sofort. Er würde in wenigen Wochen sechzehn Jahre alt werden und befand sich - gefühlt - seit zwei Jahren im Stimmbruch. Meistens sprach er mit einer tiefen, leicht heiseren Stimme, jedoch war ein krächzender Unterton herauszuhören, wenn er aufgeregt sprach. Wie gerade.

»Wenn du nicht aufpasst, packt sie dich und zieht dich mit ins Schilf. Besonders gefährlich ist es bei Nebel«, fuhr er fort und Hanka überlegte angestrengt, was er seinen Geschwistern erzählte. Sie nahm die letzten beiden Stufen ins Obergeschoss mit einem Schritt und stand in dem dunklen und engen Flur, von dem aus ihre Schlafzimmer abgingen. Die Tür des Kinderzimmers, das sich ihre beiden Kleinsten teilten, stand einen Spalt offen, schummriges Licht fiel in den Flur, vermutlich von der kleinen Schreibtischlampe, die am Fenster stand.

»Es heißt, manche Menschen seien auf Nimmerwiedersehen verschwunden.«

Jetzt konnte Hanka ein scharfes Einatmen vernehmen, das sich anhörte, als würde jemand vor Schrecken die Luft zischend einziehen. Sie wusste auch, dass dieses Atmen ihrem kleinen Sohn gehörte und stieß ärgerlich die Tür auf.

»Henri, was soll das? Du machst den Kleinen Angst.« Beide Hände vor Empörung in die Hüften gestemmt, stand sie in der Tür des kleinen Zimmers und schaute auf ihre drei, am Boden sitzenden Kinder hinab. Wie erwartet, saß Justus völlig verängstigt mit dem Rücken an den Schreibtisch gelehnt, die Ecke seiner Kuscheldecke mit beiden Händen vor sein Gesicht haltend. Ella saß im Schneidersitz neben ihm und hatte einen Arm um die Schultern ihres kleinen Bruders gelegt. Ihr großer Bruder erzählte ihnen Schauergeschichten; eine seiner liebsten Beschäftigungen seit Kurzem.

»Henri, was habe ich dir gesagt?«, begann Hanka in Richtung ihres Großen blickend, während sie zu ihrem Kleinen ging und ihn behutsam hochhob.

»Aber Mama ...«, begann Henri sich zu rechtfertigen, »... es ist die Wahrheit. Ich erzähle ihnen nur, was jeder weiß.«

Hanka schnaubte ein wenig, das Gewicht ihres Sohnes überraschte sie und sie rief sich ins Gedächtnis, dass er mit neun Jahren doch nicht mehr so klein war, und ihr langsam zu schwer wurde.

»Das ist doch Unsinn. Niemand packt irgendwen und schleppt ihn dann weg. Niemand verschwindet.«

»Aber Mama ...«, setzte Henri erneut an, kam aber sofort zum Schweigen, als Hanka ihm einen warnenden Blick zuwarf, der ihm bedeutete, augenblicklich den Mund zu halten. Henri verstand diesen Blick sofort.

Justus schlang seine Arme um ihren Hals und sie trug ihn - so schwer er auch war - aus dem Zimmer heraus. Beim Gehen warf sie noch einen Blick über die Schulter in Richtung ihrer Tochter. »Ella, ab ins Bett!«

Diese kam der eindeutigen Ansage ohne Widerworte nach, stand auf und kroch in ihr Bett.

Sie brachte das einigermaßen verängstigte, aber todmüde Kind zu sich ins Schlafzimmer, machte die kleine Nachttischlampe neben ihrem Bett an und streichelte ihrem Sohn die Haare. Schon immer konnte diese Art mütterlicher Zuwendung das Kind in Windeseile beruhigen und zum Einschlafen bringen. Es war, als hätten diese Zärtlichkeiten eine hypnotische Wirkung auf ihn. So auch heute.

»Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut. Henri will euch nur ärgern.«

»Weiß ich doch, Mama. ... Darf ich trotzdem heute bei dir schlafen?«, fragte er schläfrig.

Hanka nickte und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Natürlich, mein Schatz.«

Wie erwartet, dauerte es nur einen Wimpernschlag und er war eingeschlafen. Er könnte heute ohne Bedenken bei ihr im Bett schlafen. Christoph würde erst morgen zurückkommen. Gewöhnlich beanspruchte ihr Mann den Platz neben ihr für sich allein. Er schätzte es nicht, wenn eines der Kinder - unlängst war es nur noch an Justus, gelegentlich den Versuch zu unternehmen, zwischen seinen Eltern zu schlafen - das Bett mit ihnen teilte. Christoph war heute Nacht jedoch nicht da und Hanka würde es sehr geniessen, ihren Kleinsten in ihren Armen halten zu können.

Die Mittagsfrau - Spreewald ThrillerOnde as histórias ganham vida. Descobre agora