Kapitel 2

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Dunkelheit umhüllte mich.

»Jennifer«, vernahm ich die bebende Stimme meiner Mutter in meinem rechten Ohr. Sie erschien direkt neben mir und ihre Augen waren glasig und verängstigt. »Hör mir gut zu, Schatz. Es ist etwas Schreckliches passiert. Du musst stark sein, versprichst du mir das?«

Leises Rattern ertönte im Hintergrund, ehe ich das Weinen meiner Mutter vernahm. »Was ist denn passiert?«, fragte ich sie verwirrt, weil ich nicht ganz verstand, was hier vor sich ging. Mein Herz zog sich bei ihrem traurigen Anblick in meiner Brust zusammen, da ihre Augen von dem Weinen bereits rot angeschwollen waren, und ihr gesamtes Gesicht mit Tränen übersät war.

»Jenny, Papa ist ... er ist letzte Nacht von uns gegangen«, schluchzte sie ganz kraftlos und nahm mich in den Arm. Ich war so klein, dass sie mich mit ihrer Umarmung fast erdrückte. Ohne, dass ich ihre Worte ganz verstand, stiegen auch mir die Tränen in die Augen, und ich presste mich an ihre wohlige Brust, sodass ich ihren Herzschlag hören konnte. »Jennifer ... Jennifer«, vernahm ich meinen Namen immer wieder. »Er ist tot. Er ist weg ... für immer.«

Ich konnte nicht anders. Meine Lunge schnürte sich so sehr zu, dass ich beinahe keine Luft mehr bekam. Anschließend weinte ich so laut wie noch nie zuvor, denn der Schmerz fühlte sich für einen Moment so real an. Es war, als durchlebte ich ein zweites Mal meinen schlimmsten Albtraum.

Aufgewühlt klammerte ich mich an meine Mutter, schmiegte mich an ihre Wärme und kniff die Lider zusammen. Ihre Nähe beruhigte mich und als ich wieder die Augen öffnete, hatte sich alles um mich herum verändert.

»Dein Vater sagte mir vor unserem Aufbruch, dass du dich für Ge schichte interessierst. Er war so stolz, als er mir davon berichtete, dass du es kaum abwarten kannst, etwas über Karl den Großen und Caesar zu erfahren«, tauchte plötzlich ein alter Mann vor mir auf. Doch ich erkannte ihn sofort: der damalige Chef meines Vaters.

Mutter lächelte müde, auf einmal nicht mehr verweint und mit glasigen Augen. Im Hintergrund bemerkte ich die Umrisse unserer Küche. »Ganz der Vater, nicht wahr?«

Heiße Tränen flossen über meine Wangen, während ich reglos zu ihnen schaute. Jegliches Wort blieb mir wie ein Kloß im Hals stecken. Jeder Versuch, das Geschehen vor meinen Augen zu verstehen, endete in Verwirrung.

Plötzlich brach ein beträchtlicher Streit zwischen meiner Mutter und dem alten Chef meines Vaters aus. Alles um mich herum schien das zu machen, was es wollte, ohne dass ich Einfluss darauf nehmen konnte. Nichts schien einen roten Faden zu besitzen.

»Nein, Reinhardt, du wirst sie nicht mitnehmen! Niemals! Ich lasse nicht zu, dass du sie so verziehst wie deinen missratenen Enkel!«, schrie Mutter urplötzlich außer sich. Ich wollte nachfragen, was geschehen war, doch dann verlor ich aus heiterem Himmel den Boden unter den Füßen und schrie entsetzt auf.

Es war, als fiel ich durch die Zeit: Ohrenbetäubendes Ticken hallte durch die Luft und riss mich mit sich durch die Vergangenheit. Schnell wie ein Blitz sauste ich durch die Epochen, konnte nur eben ein Bild aus jeder einzelnen von ihnen erhaschen, ehe ich weiter gezerrt wurde und erneut in die Tiefe stürzte. Überraschend blitzte dort etwas auf. Wind peitschte mir entgegen, als ich mich im freien Fall danach streckte. Sobald ich die feinen Kettenglieder einer Taschenuhr zu greifen bekam, riss ich die Augen auf.

Schweiß rann über meine Stirn, und ich schnappte nach Luft, als hinge mein Leben davon ab. Ich spürte die getrocknete Spur salziger Tränen auf meinen Wangen und starrte in unendliche Schwärze.

Es war alles nur ein Traum, stellte ich bald fest und atmete mehrfach erleichtert auf. Mein Herz hämmerte unentwegt in meiner Brust, und ich fühlte mich wie befangen. So einen seltsamen Traum hatte ich noch nie gehabt. Und er hatte wehgetan, so weh.

Chroniken der Zeit I [Leseprobe]Where stories live. Discover now