Prolog

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Prolog

18. Mai 1097

Wie entkommt man dem Tod?

Diese Frage hatte sich Peter Wingslow schon seit dem Beginn seines Abenteuers gestellt. Als Zeitreisender im Dienste der Wissenschaft hatte er schon oft den Tod beobachten können, und noch öfter hatte er sich eben deswegen gefragt, wie er selbst eines Tages sein Ende finden würde.

Am liebsten wäre ihm ein schöner Lebensabend mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Doch nun war der Moment gekommen, in welchem er sich bewusst wurde, dass ihm sein Ableben jeden Augen blick bevorstand, und diese Einsicht machte ihm nicht nur unsägliche Angst, sondern ließ in ihm ebenfalls lodernde Wut hervorkriechen. Da beherrschte man die Zeit, und trotzdem tat sie, was sie wollte. Er hatte immerhin Kreuzritter, Bauern und Geistliche getroffen, als würden sie allesamt aus ein und derselben Epoche stammen. Dabei immer an seiner Seite war sein Mentor, Zeitreisepartner und Freund Reinhardt Abel. Ihr Auftrag war es, den Lauf der Geschichte und alle ihre Besonderheiten zu dokumentieren.

Und nun stand er da, gekleidet in Wams und Kettenhemd, und um fasste mit seiner Hand den Griff eines schweren Schwertes. Er hatte den Versuch, herauszufinden, wo er und sein Reisetrupp sich genau befanden, längst aufgegeben. Außerdem war ihm diese Gegend nicht geheuer, zumal er gewarnt worden war, dass Räuber hier ihr Unwesen trieben.

Und nun hatte er auch noch ein unerwartetes Geräusch vernommen – den Laut eines Aufpralls.

Einst hatte er sich geschworen, dass sein letzter Gedanke seiner Familie gelten würde. Meter für Meter legte er auf dem weichen Erdboden zurück – in Gedanken spielte er dabei Bilder seiner Familie ab, als handelte es sich dabei um unzählige Dias, die er eines nach dem anderen in den Diaprojektor klappen ließ; verschwommene Bilder, die an Gefühle und Geräusche gebunden waren, und die er am liebsten niemals aufgeben wollte.

Er atmete tief ein und aus, spürte, wie die klare Luft seine Lungen durchströmte. Es war so totenstill, dass man den Aufprall einer Stecknadel hätte hören können. Ein Schauer fuhr über Peters Rücken.

Vom Schlimmsten ausgehend wagte er einen Blick neben eine Reihe von Felsen und da fand er, was er bereits erahnt hatte. Tot und erkaltet lag vor ihm seine Ablöse für die Nachtwache; Blut sickerte seinen Hals hinab auf den feuchten Erdboden und jeder Funke Leben war aus ihm gewichen. Wie eine leere Hülle starrte der Körper in den Himmel hin

auf.

Peter riss vor Schreck die Augen auf. Angst und Ekel fuhren ihm wie ein Blitz durch jede einzelne Faser seines Körpers und ließen ihn er starrt zurück. Panisch fragte er sich, was nun zu tun war, bis es ihm endlich in den Sinn kam und er mit voller Lautstärke »Räuber!« quer durch das Lager rief.

Er nahm die Beine in die Hand und spurtete zurück zu seiner Reise gruppe, welche nach und nach erwachte. Bewaffnete Männer stürmten zeitgleich aus der Dunkelheit des Waldes heraus, als wäre sein Warnruf der Auslöser für ihr Erscheinen gewesen.

Die anwesenden und noch leicht schlaftrunkenen Ritter griffen nach ihren Schwertern, bereit sich und das Leben der anderen zu verteidigen. Die nur spärlich bewaffneten Geistlichen und Bauern versuchten, sich so gut wie möglich in Sicherheit zu bringen; Kreuze wurden erhoben und gemurmelte Gebete hallten von ihnen durch die Finsternis, als die Rufe der Männer für einen Moment verstummten.

Um der Gefahr zu entkommen, suchte Peter seinen Zeitreisepartner in der kämpfenden Menschenmasse, doch das Gefecht war zu unübersichtlich, als dass er ihn finden konnte. Stattdessen wandte er sich in jede erdenkliche Himmelsrichtung und hoffte so, sich besser orientieren zu können. Vergebens.

Auf einmal stürzte jemand von der Seite auf Peter zu und riss ihn zu Boden. Peter keuchte vor Schreck auf und starrte in das leblose Augenpaar eines Mannes. Von dem Gewicht des Toten niedergedrückt, bemerkte er erst gar nicht, dass der Mörder des Unbekannten sich direkt vor ihm befand. »Du kommst zu spät, törichter Kerl!«, ließ dieser verlauten.

Peter fasste sich, schob den Toten fort und versuchte, sein Schwert zu erreichen, das ihm im Fall aus der Hand geglitten war. Er kroch über den Erdboden, um es zu erreichen, und sah im Augenwinkel, wie der Täter mit seiner Axt ausholte. Kurz bevor diese jedoch Peters Kopf spalten konnte, hatte er das Schwert erreicht, sich zur Seite gerollt und schließlich aufgestemmt.

Der Mann zog seine Waffe aus der weichen Erde. Peter holte genau in dem Moment aus und traf seinen Gegner fast an der Schulter, doch dieser wehrte den Angriff geschickt mit der Axt ab. Er zog das Schwert zurück und versuchte, um den Mann herumzutänzeln. Dabei wich er seinen Hieben aus und traf ihn schließlich an der Bauchgegend. Peter konnte im ersten Augenblick nicht fassen, dass er zu siegen schien und erkannte plötzlich in dem Gesicht seines Gegners Todesangst. Der verletzte Mann taumelte rückwärts und stürzte über jene Leiche von vorhin.

Peter hielt in seiner Bewegung inne und beschloss, den Moment zu nutzen, um so schnell wie möglich zu fliehen. Dabei steuerte er seinen Zeitreisepartner an. Sobald er ihn endlich erreicht hatte, keuchte er außer Atem: »Lass uns verschwinden!«

Reinhardt wandte sich ihm zu und Peter erkannte ein Lächeln auf seinen Lippen. Blutspritzer klebten auf seinem Gesicht, was seinen Mentor wie ein blutrünstiges Monster wirken ließ. »Nein, ganz bestimmt nicht.«

»Was?«, entfuhr es Peter, erschrocken über jedes einzelne Wort seines Partners. Er konnte nur an die Angst, seine Familie nie wieder zu sehen, denken. »Bist du des Wahnsinns?«

»Oh, nein, nein«, bestritt sein Begleiter und fügte hinzu: »Ich lasse die Kameraden nicht allein.«

»Wenn du sterben willst, meinetwegen! Aber dann überlass mir wenigstens die Taschenuhr!«, keifte Peter aufgebracht, der erahnte, dass alle Hoffnung verloren war. Er hatte nie gewusst, dass Todesangst einen so zerfressen kann. Ihre Mission war verloren, das sah selbst ein Blinder.

»Man bringt eine Sache zu Ende, wenn man sie beginnt«, spuckte sein Zeitreisepartner aus. Hass erfüllte die Luft und ließ die Venen seines Gegenübers erbeben. »Unterstütze mich bei meinen Vorhaben oder sieh zu, wie alles, was du je geliebt hast, in Flammen aufgeht!«

Wie gelähmt schaute Peter ihn an und konnte nicht fassen, was sein Freund da von sich gegeben hatte. Es bedeutete in jeglicher Hinsicht Verrat, und als er sich dieser Konsequenz bewusst wurde, fühlte es sich an, als wurde sein Herz geradewegs von einem Dolch durchbohrt.

Reinhardt hob die Klinge und verwies auf seine Kehle. »Na los. Renn, wie du es schon immer getan hast!«

»Reinhardt ...«, murmelte Peter und starrte seinem ehemaligen Freund ungläubig entgegen. »Das kann doch nicht dein Ernst sein ... Ich bitte dich. Sieh doch endlich ein, was das für Konsequenzen mit sich bringen wird.«

»Ach, ja?« Dieser begann zu grinsen. »Meinst du wirklich, dieser Über fall ist Zufall? Denkst du all das, was geschehen ist, war reiner Zufall? Wie leichtsinnig von dir.«

Peter schüttelte seinen Kopf. Zu viele Dinge schwirrten darin herum. Aber eines musste er sich klar machen: Sein alter Freund hatte recht. Nicht das Geringste von alledem war Zufall. Und diese Tatsache zerstörte ihn innerlich mehr, als tausend berittene Männer mit Langschwertern es hätten tun können. »Du bist verblendet von einer Ideologie«, sprach das letzte bisschen Hoffnung aus ihm. »Richte deine Waffe lieber gegen den wahren Feind!«

»Und wer soll das sein?«

»Jeder verfluchte Geheimbund, der die Uhr für das Wohl der Menschheit missbrauchen möchte.« 

Chroniken der Zeit I [Leseprobe]Where stories live. Discover now