Kapitel 2

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"Ach komm schon Dawn, es ist Mardi Gras und das Publikum will einen Kuss", säuselte Leonor. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass sie mit der freien Hand eine goldene Perlenkette schwenkte. Allerdings konnte ich meinen Blick gerade einfach nicht von dem Schweinekopf abwenden, der unheilverkündend etwa 50 Zentimeter vor mir in der Luft schwebte. Die Pearl-Clique hatte sich an Boshaftigkeit mal wieder selbst übertroffen.
In einem letzten Ausbruchsversuch duckte ich mich nach unten weg und nutzte mein Körpergewicht, um die beiden Neon-beschuhten Barbies nach unten zu reißen. Brooke quietschte, doch Carlton packte mich einfach an den Haaren und riss mich wieder nach oben. Dabei erwischte sie meinen Haarreif am linken Ohr. Als der Haarreif meiner Mutter brach, knackte es, als sei jemand auf einen Ast getreten. Und das war der Moment, in dem ich die Tränen kaum noch zurückhalten konnte...
"Dawny-Dawn! Du wirst Mr. Piggles doch keinen Korb geben wollen?" Carlton spielte die Empörte. "Das würde seine Gefühle verletzen."
"Genau", mischte sich Marco ein. "Und jetzt knutsch endlich." Unter anderen Umständen, wenn Marco damit sich und nicht das Schwein gemeint hätte, wäre diese Ansage fast romantisch gewesen.
"Kuss, Kuss, Kuss!" Um uns herum wurden die Rufe lauter. Die Menge forderte einen Kuss für das Schwein. Unter gesenkten Lidern scannte ich die Menge. Niemand trat hervor, um diesem Unsinn Einhalt zu gebieten. Wohin ich auch blickte, überall sah ich nur in hämisch verzerrte Gesichter und Handykameras. Super.

"Küss das Schwein!" Serena wurde wohl langsam ungeduldig, denn jetzt kam sie mit dem toten Schwein, das sie immer noch an den Ohren gepackt hielt, näher. Fast erinnerte sie mich an eine Mutter, die wollte, dass ihr Kind endlich den Brei aß.
Von hinten schubste Marco mich einen Schritt nach vorn. "Zungenkuss. Los! Ich will was sehen!"
"Kuss, Kuss, Kuss!", brüllten seine Freunde aus der Skater-Gang.
Ich hatte keine Chance.

Glücklicherweise bog in diesem Moment meine Englisch-Lehrerin Mrs. Kingsley in den Schulflur ein. "Was geht hier vor?" Mit einem Blick hatte sie die Situation erfasst und ihre randlose Brille auf die Nasenspitze geschoben. Das tat sie immer, um uns mit ihren kleinen, wütenden Augen über die Brille hinweg anzustarren. Die Hände in die Hüfte gestemmt, die braunen Haare zu einem lockeren Knoten - Marke Vogelnest hochgesteckt, wirkte sie wie eine sehr aufgebrachte Vogelscheuche- obwohl sie erst knapp über 30 Jahre alt war.
"Hi Mrs. Kingsley", Marco der Charmeur schob sich vor mich, so dass er mit seinem muskulösen Oberkörper das Schwein und mich verdeckte. Dann zog er seine Charmebolzen-Nummer ab, um Mrs. Kingsley um den Finger zu wickeln. Doch von seinem Zahnpastalächeln und dem lässigen Durch-die-Haare-streifen von Marco ließ sich meine Lieblingslehrerin, die gut 15 Jahre älter als Marco war, nicht beeindrucken.
Bevor sie den Mund öffnete, verschränkte sie die Arme vor der Brust. "Alle sofort in ihre Klassen. Und Serena, du gibst mir die Tüte für den Biologie Unterricht. Ich werde das Schwein Mr. Evans aushändigen, so wie du es eigentlich vor Schulbeginn hättest tun sollen. Sei froh, wenn ich dir dafür keinen Tadel eintrage."
Mit geschürzten Lippen übergab Serena Mr. Piggles, den viele von uns heute wohl oder übel noch in Mr. Evans Bio-Unterricht wiedersehen würden, in seiner Platiktüte an Mrs. Kingsley. New Orleans war schon eine sehr eigenwillige Stadt, in der nichts Verwerfliches daran gefunden wurde, dass Mädchen tote Tieren mit sich herumschleppten. Eine Stadt, deren Einwohner den Tod anders als an allen anderen Orten der Welt betrachteten, ja gewissermaßen zelebrierten. Und Serena war noch nichtmal eine angehende Voodoo Hexe, so wie ich.

Gleichzeitig ertönte der Schulgong. Der grausige Montag vor Mardi Gras hatte somit offiziell begonnen. So schnell wie sie gekommen waren, entfernten sich die Schaulustigen wieder, allerdings nur unter Protest-Gemurre. Zurück blieb einzig und allein ich, das Haar komplett verstrubbelt und mit zitternden Knien. Warum hatten sie es eigentlich immer auf mich abgesehen?
An der nächsten Ecke hielt Mrs. Kingsley noch einmal inne. Als wäre ihr gerade erst eingefallen, dass man nach Ereignissen wie diesen mit den betroffenen Schülern sprach, drehte sie sich langsam in meine Richtung. "Alles in Ordnung Dawn?"
Ich hob den Kopf. Anstatt zu antworten, sah ich ihr einfach nur in die Augen. Eigentlich sollte sie mich verstehen. Aber wahrscheinlich war sie durch den Schweinekopf, den sie in der Plastiktüte auf Armeslänge von sich entfernt hielt, genauso verstört wie ich. Außerdem war Mrs. Kingsley mit Abstand meine Lieblingslehrerin und ich wusste, wie zerstreut sie sein konnte. Das machte sie in meinen Augen besonders liebenswürdig.
"Ach, was rede ich da?" Sie kratzte sich mit der freien Hand am Kopf, wobei sie sich beinahe selbst die Brille von der Nase stieß. "Hoppla." Da sie damit wahrscheinlich die Brille meinte, schwieg ich weiter.
"Also... am besten sprechen wir nach dem Englisch-Unterricht über den Vorfall, in Ordnung?"
Ich nickte. Weiter brachte ich einfach nichts zustande. Wahrscheinlich stand ich noch unter Schock, denn mein Unterkiefer fühlte sich wie zugefroren an.
Doch Mrs. Kingsley schien das zufrieden zu stellen. Nach einem kurzen Nicken nahm sie die Abzweigung in den Gang mit den Biologieräumen.
Damit war ich nun vollkommen allein im Flur.
Dieser verfluchte Mardi Gras-Brauch! Was hatte ich von diesem Fest meiner Geburtstadt außer Ärger und einer verstrubbelten Frisur? Da fiel mir Moms Haarreif wieder ein. Vor Anspannnung wurden meine Fingerspitzen ganz feucht, dennoch gelang es mir den Haarreif aus meinen Haaren zu ziehen.
Betrübt betrachtete ich das schwarze Ding. Zerbrochen. Kaputt! Eins meiner liebsten Erinnerungsstücke an meine verstorbene Mom.

Teenie Voodoo Queen ~Leseprobe~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt