"Lebst du hier?"
"Hast du dieses Schneechaos angerichtet?"
"Wo sind die scheußlichen Kreaturen, die hier hereingegangen sind. Stecken sie mit dir unter einer Decke?"
Die klagende Menschenmasse umrundete mich und durchlöcherte mich mit Fragen. Überfordert blickte ich um mich herum und bemerkte nüchtern, dass sie mich zurückgelassen hatten. Ich war ihr Ablenkungsmanöver gewesen und selbst Rue hatte mich hier zurückgelassen, nur um ihre eigene Haut zu retten. Mein Körper erstarrte. Es breitete sich eine Leere in mir aus. Normalerweise müsste ich an Situationen wie diese gewohnt sein, denn es war nicht das erste Mal, das ich jemanden half, der mich am Ende auslieferte oder zum Überleben missbrauchte. Dennoch hatte ich mehr von diesem Mädchen erwartet. Die sich ausbreitende Leere in meinem Herzen hinterließ eine bittersüße Note - eine weitere Narbe, die mich lehrte, dass ich mich nicht jeder Person öffnen sollte. Am Ende erwartete mich nichts anderes als Leid.
"Hey!", schrie jemand durch die Menge. Die Geräusche erstarben. Sie richteten sich nacheinander auf und bildeten einen schlängelartigen Durchgang, bevor sie mit ihren Armen ein senkrechtes Kreuz bildeten und ihre Stirn gegen den innenliegenden Arm lehnen. Es war eine Form der Verbeugung, die mir bislang fremd war. Da ich durch mein Veteranenstatus in etliche Gebiete und Ländern stationiert war, müsste ich mich mit den Kulturen der jeweiligen Völker vertraut sein. Umso mehr fragte ich mich, in welche Ecke auf der Landkarte Lyndel uns geschickt hatte.
Als ich zu jener Frau blickte, die scheinbar einen hohen Status in dieser mir fremden Stadt innewohnte, stockte ich. Sie hatte einen schweren, erhabenen Gang und trug einen rotschwarzen Kimono, der mit schwarzen Federn und Fledermäuse verziert war. Um ihre Taille wurde wie ein Gürtel ein orangenes Stück Stoff gebunden, das am Rücken zu einer großen Schleife gebunden wurde. Doch das war nicht der Grund für meine Verwunderung.
Die Sklera im Auge hatte eine ungewöhnliche schwarze Farbe. Für Menschen war dies nicht üblich. Der äußere Rand war blutüberzogen - zumindest hatte es durch den kräftigen Rotton den Anschein erweckt, das sie direkt aus einer Horrorgeschichte entsprang. Ihre Iris war hingegen weiß, mit feinen roten Linien durchzogen. Je näher sie kam, desto mehr erinnerte die Form an kleine Kreuze. Die kreisrunden Pupillen waren das Einzige, was an ihren Augen menschlich war.
Ihr Haar erinnerte an schwarze Kohle, die mit feine aschfarbene Strähnen versetzt war. Und ihre Haut glich der Farbe des Schnees, in dem sie stapfte. Das knirschende Geräusch, wenn ihre Beine in der watteartigen Frostschicht versanken, erinnerte mich an gute Zeiten mit Jikai. Er liebte die Spaziergänge durch den Schnee, sowie er die blühenden Bäume im Frühling genoss. Doch am Wichtigsten war ihm die Zeit zuhause. Wenn draußen ein Schneesturm oder ein Unwetter tobte, hatte er sich stets mit einem guten Buch und einem selbstgemachten Cocktail in seinen Schaukelstuhl gesetzt.
Die dubiose Frau hielt vor mir an und musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ihre Gesichtszüge waren fein und erinnerten an eine leblose Puppe. Dennoch umgab sie eine unheilvolle Aura, die mich einerseits an meinen Fluch und andererseits an Lyndel und dessen Zylinder erinnerte.
An ihren freien Körperstellen konnte ich zahllose Tattoos entdecken, die sowohl bunt als auch grotesk waren.
Abgetrennte Gliedmaßen, Skelette, und ein blutüberströmtes Gesicht, das gerade ein Herz verspeiste, während ein Krias einen Spiegel davor hielt, der wiederum zeigte, dass ein Mensch gerade das Herz aus einem noch lebenden Menschen gerissen hatte. Dies war zwar nicht realistisch, da wir keine Krallen hatten wie in diesem Tattoo und darum kein Herz einfach so herauspulen konnten. Dennoch hinterließ es den Eindruck, das sie zu allem fähig war. Da waren mir die lebendigen Tattoos mit dem Zylindergesicht wesentlich lieber.
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Was mir einst wichtig war
FantasyEine Geschichte über eine längst vergessene Welt, in der Magie, Naturgeister und Götter über die Lande geherrscht haben. Inmitten des anhaltenden Krieges zwischen Götter und Menschen macht sich der Veteran Rykar Gorian ruhelos auf dem Weg, um der Sp...