1. Kapitel

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1.       Kapitel

Nick rieb sich müde die Augen. Seit mehreren Stunden saß er nun bereits über den Fotos der jungen Frau, die sie am frühen Vormittag gefunden hatten. Der Kaffee, den er sich vor einer halben Stunde geholt hatte stand unberührt auf seinem Schreibtisch und war mittlerweile fast kalt geworden. Wieder und wieder nahm er den Zettel zur Hand, auf dem in feiner Handschrift der Tathergang seines neuesten Falls beschrieben war. Während er zum gefühlten hundertsten Mal den Tagebucheintrag des Mörders las, legte sich ihm eine vertraute Hand auf die Schulter. „Denkst du nicht, du hast für heute genug gearbeitet, Nick? Du hast sogar deinen Kaffee einfach so kalt werden lassen, das kenne ich sonst gar nicht von dir“ hörte er seine Kollegin sagen. „Marie, du hast es doch selbst gelesen. Anscheinend steckt die Lösung für die nächste Tat dieses Psychopathen irgendwo in diesem Stück Papier und ich will kein weiteres, junges Mädchen auf dem Gewissen haben, weißt du?“  Marie seufzte und begann wieder zu sprechen. „Ich verstehe dich, Nick, absolut. Aber zum einen wissen wir noch überhaupt nicht, ob der Spinner es überhaupt noch einmal probieren wird oder uns nur einen Streich spielen will und zum anderen sind wir schon 2 Stunden länger hier, als wir eigentlich sein sollten. Fass das bitte nicht falsch auf, aber ich bin müde und will nach Hause. Wenn du noch hierbleiben möchtest, um dir wieder und wieder dieses dämliche Stück Papier anzusehen bis du es in-und auswendig kennst, bitte sehr, aber ich hole jetzt meinen Mantel und dann gehe ich nach Hause. Gute Nacht, Nick. Schlaf gut und mach nicht mehr allzu lang, okay?“ Mit diesen Worten verließ sie sein Büro und schloss hinter sich die Tür. Als sie gegangen war, öffnete Nick eine der Schubladen seines massiven Schreibtischs, den er letztes Jahr im Zuge seiner Beförderung zum neuen Büro dazubekommen hatte, und legte die Kopie des Tagebucheintrags hinein. Dann strich er sich durch die mittlerweile leicht angegrauten Haare, schlüpfte in seine geliebte Lederjacke, streckte die müde gewordenen Glieder und setzte sich langsam in Bewegung in Richtung des Ausgangs, bevor er bemerkte, dass sein kalter Kaffee immer noch auf dem Tisch stand. Kurz zögerte er und wollte noch einmal zurück, dann entschied er sich jedoch, ihn einfach morgen wegzuschütten und für heute einfach nichts mehr zu tun.

Nachdem er das Licht ausgeschaltet hatte, ging er auf den Flur hinaus, wo er dem diensthabenden Nachtwächter über den Weg lief. „Eine lange Nacht, Mr. Jackson?“ fragte der in höflichem Tonfall. „Ja, das kann man wohl sagen, Mr. …“ „Appleby, Stephen Appleby um genau zu sein.“  „Appleby, alles klar. Sie sind neu hier oder? Zumindest habe ich sie noch nie vorher gesehen. Naja, wie auch immer, ich wünsche ihnen noch eine gute Nacht. Auf Wiedersehen!“ Mit diesen Worten verließ Nick das Gebäude und trat hinaus in die kalte, verschneite Nacht. Einen Moment lang blieb er noch stehen und blickte zu der Laterne vor ihm. Das Licht beleuchtete die unzähligen dicken Schneeflocken, die vom Himmel fielen, so dass er sich einen Moment lang wieder wie das Kind fühlte, dass damals in unzähligen Wintern die Laterne vor dem Haus beobachtet und die Schneeflocken gezählt hatte. Während er zum Auto lief und vor Kälte die Arme dichter an den Körper schlug, knarzte der frische Schnee unter seinen Schuhen. Am Auto angekommen drehte er sich noch einmal um, nur um zu sehen, dass die Spuren, die er hinterlassen hatte, fast schon wieder zugeschneit waren. Mit klammen Fingern holte er den Schlüssel heraus, öffnete seinen Wagen und holte den Schneekratzer heraus, um wenigstens für ein bisschen Sicht zu sorgen. Auf einmal spürte er, wie sein Handy vibrierte. „Marie? Keine Sorge, ich bin schon auf dem Weg nach Hause“, sagte er mit einem müden Lächeln. „Gut, ich wollte nur sichergehen, dass du nicht wieder die ganze Nacht im Büro versumpfst. Wenn du willst, können wir uns noch auf einen Drink in der Kneipe treffen? Irgendwie lässt mich dieser Fall doch nicht in Ruhe. Getränke gehen auf mich, was sagst du?“ Nick überlegte kurz, ob er dieses verlockende Angebot annehmen sollte, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Ich denke, ich gehe lieber schlafen, ich bin fast daheim und mir fallen wirklich gleich die Augen zu. Lass uns morgen weiter darüber nachdenken, okay? Schlaf gut Marie, bis morgen früh dann!“ Er steckte sein Handy wieder ein, setzte sich in sein Auto und fuhr los. Das Schneetreiben war noch dichter geworden, als es ohnehin schon gewesen war und so kam er nur langsam voran. Die ganze Fahrt über spekulierte er, ob er nicht doch Marie anrufen sollte, um nochmal mit ihr über den Fall zu reden, entschied sich dann jedoch dagegen. Er hatte ihr bereits abgesagt, vermutlich lag sie jetzt doch schon in ihrem Bett und schlief tief und fest. Nick kannte sie lange genug, um zu wissen, dass ihr Vorwand, nicht schlafen zu können, nur eine Erfindung war und sie sich in Wirklichkeit Sorgen um ihn machte. Marie konnte immer und überall schlafen, ein Talent um das sie Nick nicht nur heute beneidete.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit fuhr er seine Auffahrt hinauf, wartete einen Moment bis die automatische Garagentür sich geöffnet hatte und fuhr dann hinein. Obwohl er während der Fahrt fast eingeschlafen war, fühlte er sich jetzt, da er wieder zu Hause war, wieder hellwach. Zu seiner schlechten Grundstimmung gesellten sich nun ein paar starke Kopfschmerzen, die ihn immer wieder schubweise an den Rand der Verzweiflung brachten. Vor sich hin brummend ging er nach drinnen, legte seine Jacke ab und begab sich zu seinem Medikamentenschrank, um nach Kopfschmerztabletten zu suchen. Unglücklicherweise war alles, was er vorfand, eine leere Packung Aspirin und eine ebenso leere Packung Ibuprofen und so sah er sich gezwungen, zu einer Alternative zu greifen, die die Schmerzen zwar nur begrenzt lindern konnte, ihn dafür aber umso schneller in den Schlaf schickte. Die Flasche des zwölf Jahre alten Whiskeys, die ihm seine Kollegin zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte, war noch circa halbvoll, als er sie aus dem Schrank holte, um sich ein Glas des feinen, goldgelben Getränks einzuschenken. Dann setzte er sich in seinen Lieblingssessel, am Fenster das auf seinen Garten hinaus zeigte und beobachtete die Schneeflocken. Wie schon als Kind fand er die Wirkung dermaßen hypnotisierend, das er schon bald, noch bevor er das Glas zu Ende getrunken hatte, eingeschlafen war.

B100|) - Tagebuch des GrauensWhere stories live. Discover now