22 Sekunden

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Grace:

Ich starre beinahe zu gebannt auf das Fotoalbum in meinen Händen, nur um abermals Dylan auf der Schaukel zu begutachten. Ironischerweise kann ich nicht anders, als bei seinem Blick laut los zu lachen. Wer auch immer das Foto gemacht hat, hat jedenfalls im richtigen Moment abgedrückt.

„Was ist so lustig, dass ausgerechnet du darüber lachst?" Fast schon erschrocken fahre ich herum, nur um wenige Sekunden später in das Gesicht von dem Typen zu blicken, dessen Kinderfoto ich gerade noch bewundert habe.

„Zum Beispiel du auf der Schaukel." Ich halte ihm das Album unter die Nase. „Mit einer Miene wie drei Tage Regenwetter?"

Anstatt irgendetwas zu erwidern, starrt er über meine Schulter hinweg lediglich einmal mehr auf das Foto. Ich spüre sein Gesicht neben meinen, schlucke den Kommentar, der mir schon auf der Zunge liegt, jedoch kurzentschlossen hinunter.

„Das war in irgendeinem Sommerurlaub, soweit ich weiß."

Stimmt. Ist schließlich nicht so, dass im Hintergrund strahlender Sonnenschein herrscht und auch sonst alles andere auf eine dieser am Strand aufgebauten Spielplätze hindeutet.

Ich bin noch nie wirklich im Urlaub gewesen. Vielleicht am Strand und einmal in einem dreckigen Motel, dass irgendeinem alten Nachbarn von uns gehört hatte.

Nach dem Streit mit Steph bin ich mit Cora dorthin geflohen. Ich weiß noch, wie sie viel zu glücklich da gestanden hat, als ich sie vom Ballettunterricht abgeholt habe. - Und all das nur, um ihr zu sagen, dass wir für diese Nacht nicht zurück nach Hause konnten. Dass es Steph nicht gut ging, obwohl ich insgeheim nur Angst hatte, dass sie Cora in ihrem Rausch weh tun könnte.

Ihr zufriedenes Lächeln war schneller verschwunden, als ich gehofft hatte.

„Du solltest dich vielleicht beeilen." Ohne weiter darüber nachzudenken klappt Dylan das Fotoalbum zu und verstaut es in dem Regal zu seiner Linken. So langsam komme ich mir schon ein wenig hoffnungslos vor, was vielleicht auch daran liegt, dass ich gerade einmal ein paar Stunden gebraucht habe, um Dylans Zimmer erneut ins Chaos zu stürzen.

„Warum sollte ich?" Fragend ziehe ich die Augenbrauen hoch. „Hast du inzwischen etwa ein Ziel gefunden oder fahren wir einfach drauf los?"

„Kann man zu sagen", erwidert er nahezu verschwörerisch und bringt sich dazu aufzustehen.

„Was?" Ich kann nicht anders, als aufzustehen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund sind meine Beine eingeschlafen. „Dass du ein Ziel gefunden hast?"

Dylan nickt.

„Du weißt aber schon, dass du nicht einfach ans andere Ende dieser Stadt fahren kannst?", erinnere ich ihn. Selbst die Tatsache, dass nach einem ziemlich wolkigen Morgen doch noch die Sonne herausgekommen ist, kann daran nichts ändern.

„Weil du polizeilich gesucht wirst?"

Ich muss unwillkürlich an die zerknüllte Vermisstenanzeige von gestern denken.

„Glaub mir es ist nicht das erste Mal, dass ich von irgendeinem Ort verschwinde. Wenn ich nicht gefunden werden will, dann werde ich auch so schnell nicht gefunden", murmele ich, auch wenn ich mir dieses Mal wirklich Sorgen mache. „Allerdings bist du Mumentan derjenige, der mir dabei helfen muss."

Es war eine halbwegs sternenklare Nacht gewesen, als ich mit Cora in das Motel eingecheckt hatte. In ein Motelzimmer, dass nicht sonderlich sauber war und dessen beiges Bett zusammen mit den ebenfalls beigen Wänden eine gewisse Monotonie ausgestrahlt hatte. Cora und ich haben die halbe Nacht wach gelegen, während sie ihre dünnen Arme um mich geschlungen und mich gefragt hat, ob wir denn jemals wieder nach Hause könnten. - Und ich habe ihr die Antwort gegeben, die sie hören wollte; Habe ihr gesagt, dass sich alles zum Besseren wenden wird.

„Wer war es das letzte Mal?" In Dylans Miene spiegelt sich eine gewisse Aufrichtigkeit.

„Cora." Ich schlucke den Kloß, der sich in meinem Hals bildet unwillkürlich hinunter. Irgendwann am Ende dieser Woche wird ihre Beerdigung sein.

„Ich kann dir versprechen, dass wir die Stadt verlassen", entgegnet er und für einen kurzen Augenblick glaube ich ein Lächeln über sein Gesicht huschen zu sehen.

Meine Gedanken wandern zu den Fotos in Dylans Album.

„Du entführst mich aber nicht an diesen verdammten Strand aus deinem Fotoalbum, oder?", versuche ich es erneut und zwinge mich dazu meine Gedanken wieder der Gegenwart zuzuwenden.

Jetzt muss er doch schmunzeln.

„Das tust du nicht...", beginne ich warnend. Was zur Hölle soll ich an einem Strand? Ich meine, ich werde mir weder den Sonnenuntergang ansehen, noch schwimmen gehen, was vermutlich auch daran liegt, dass mir das Wasser bei diesem Wetter definitiv zu kalt ist.

„Reg dich ab, Ginger", unterbricht Dylan mich schließlich lachend. „Der Strand auf dem Foto ist in Schottland."

„Und du wolltest nicht zufällig nach Schottland fahren?", ziehe ich in Betracht. Ich meine, ich war noch nie in Schottland, aber das Bild, was ich von diesem Ort habe, schwankt irgendwie zwischen Dauerregen, Männer in Röcken und einem merkwürdigen Akzent. Andererseits soll die Landschaft dort ganz schön sein. Das hat zumindest eine dieser Reisezeitschriften behauptet, die ich zuletzt beim Arzt gelesen habe.

„Es ist schon ein wenig länger her, als ich zuletzt dort war." Seine Stimmer klingt ernster als zuvor. „Und ehrlich gesagt ist der Weg ein wenig zu weit."

Ich kann mir denken, wie lange. Lange genug, dass seine Mutter noch am leben war und lange genug, um noch als glückliche Familie bezeichnet werden zu können.

Beinahe unwillkürlich zucke ich mit den Schultern. „Das wird's wohl sein."

„Dann solltest du wohl packen", entgegnet Dylan geradezu hoffnungsvoll. Er scheint es definitiv darauf anzulegen das Thema zu wechseln.

Was soll ich denn bitte einpacken?"

„Ich weiß nicht", Jetzt wirkt er doch etwas überfordert. „Was brauchst du denn?"

Für jemanden der sich dank seiner Schwester mit Kosmetikartikeln und kitschigen Filmen auskennt, scheint er in diesem Augenblick jedenfalls erstaunlich planlos zu sein.

„Ob du es glaubst oder nicht, aber das Einzige, was ich im Moment brauche ist einen Fahrer - der du zufällig bist - und ein Auto, um von A nach B zu komme, was du ironischerweise ebenfalls hast."

Wobei du mir aus unerfindlichen Gründen wichtiger bist, als das Auto.

„Gut, dann gib mir 22 Sekunden." Neben mir beginnt Dylan ein paar Sachen in einen der Rucksäcke zu stopfen, die er hinter seiner Zimmertür aufbewahrt. Kaum zu glauben, dass er in dem von mir verursachten Chaos überhaupt noch etwas findet.

„Wofür?", rufe ich ihm noch hinterher, ehe er auch schon in Richtung Küche verschwindet. Es wundert mich nicht einmal, dass er sich schon wieder dabei ist, sich aus dem Staub zu machen.

Ich höre wie in der Küche etwas zu Bruch geht, bevor Dylan auch schon anfängt lautstark zu fluchen. Insgeheim muss ich grinsen, was auch an der Vorstellung von seinem genervten Gesichtsausdruck liegt, mit dem er verzweifelt die Scherben vom Boden aufsammelt.

„Um wenigstens meine sieben Sachen zusammen zu packen", antwortet er, während er abermals den Raum betritt. Seine Haare wirken geradezu zerzaust, was darauf schließen lässt, dass er sich einmal mehr verzweifelt - und vermutlich auch fluchend - hindurch gefahren ist.

„Und wozu die 22 Sekunden?", hake ich nach, doch Dylan ist bereits wieder auf dem Weg in die Küche. Neben mir steht noch immer sein Rucksack, in dessen Inneren sich bisher nur sämtliche Nahrungsmittel stapeln. Glücklicherweise ist er bisher nicht auf die Idee gekommen zu zelten oder irgendein Motel zu buchen, was wahrscheinlich auch daran liegt, dass er morgen arbeiten muss. Kaum zu glauben, dass es bereits Donnerstag ist.

„Gib mir 22 Sekunden und wir sitzen fahrbereit in meinem Jeep, okay?", erwidert er, wobei er sich endgültig den Rucksack schnappt. Er grinst geradezu zuversichtlich und aus irgendeinem Grund wirkt es dieses Mal sogar ansteckend.

„Das glaubst du doch selbst nicht", murmele ich lächelnd.

Auf das, was warWhere stories live. Discover now