Kapitel 3

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Wir saßen immer noch am Küchentisch, als Nora die Küche betrat und während Alice bereits ihren fünften Kaffee trank, waren Julie und ich auf Grüntee umgestiegen. Noch eine Gemeinsamkeit, die wir hatten. Wir liebten Tee.
Noras verschlafenes „Guten Morgen" hatte unsere Aufmerksamkeit auf sie gelenkt und wir hatten unser Kartenspiel unterbrochen und ihr ein etwas zu überschwängliches „Guten Morgen" zugerufen.
„Warum seid ihr denn schon so früh wach? Und dann noch so gut gelaunt. Und wieso trägst du den gleichen Pulli wie Ria, Jana?", fragte Nora, nachdem sie sich an der Kaffeemaschine zu schaffen gemacht hatte.
„Äh, ich bin nicht Jana. Ich bin Julie. Alice hat dir bestimmt schon von mir erzählt." Julie lachte.
„Warte was?", sagte Nora – immer noch total verschlafen. „Ich glaub ich muss mir erst einmal kaltes Wasser ins Gesicht spritzen, damit ich richtig wach werde." Daraufhin verschwand sie kurz aus der Küche und als sie wieder kam, wirkte sie schon viel wacher als zuvor. Sie war eben der kleine Morgenmuffel unserer WG. Und mit klein war ihre Größe gemeint. Nora war nur einen Meter fünfzig groß, hatte eine sehr zierliche (fast schon kindliche) Statur, hellblonde Haare (es war tatsächlich ihre Naturhaarfarbe) und große braune Rehaugen. Anfangs hatte ich gedacht, dass sie die kleine Schwester einer Mitbewohnerin sei, die bereits voraus gestürmt war und als sich heraus gestellt hatte, dass sie meine Mitbewohnerin war, wäre ich am liebsten vor Scham im Boden versunken. Aber eigentlich brauchte ich mich nicht so schämen, denn ich war gerade mal fünf Zentimeter größer und hatte eine ähnliche Figur wie sie. Bei mir dachten die Leute ebenfalls regelmäßig, dass ich vierzehn Jahre alt war. Eine Zeit lang hatte es mich sehr geärgert, aber inzwischen kam ich sehr gut damit klar. Meine Mutter sagte immer, dass ich es als Kompliment sehen sollte, da ich dann irgendwann mit 40 angeblich aussehen würde wie 30.
„So, jetzt geht es mir schon besser. Tut mir Leid, dass ich dich mit Jana verwechselt habe. Morgens ist einfach nicht meine Lieblingszeit", plapperte sie los. Reden gehörte zu Noras Lieblingsbeschäftigungen. „Übrigens habt ihr meine Frage nicht beantwortet. Wieso seid ihr so früh wach? Und noch eine Frage: wenn du die Freundin bist, die nächstes Semester an unsere Uni kommt, wieso bist du dann hier? Alice meinte doch, dass du direkt zu ihren Eltern kommen würdest. Oder habe ich etwas falsch verstanden?" Während sie sprach, schnappte sie sich ihren fertigen Kaffee und setzte sich zu uns an den Tisch. Sie nahm wie immer einen Stuhl und quetschte sich nicht auf die Eckbank wie der Rest von uns es immer tat.
„Wir sind nicht schon wach", ergriff Alice das Wort und nahm beiläufig einen Schluck aus ihrer Tasse. „Wir haben erst gar nicht geschlafen. Und Julie ist hier, weil es einen Vorfall gab und sie deshalb früher kommen musste."
Als sie das Wort „Vorfall" sagte, musste sie schwer schlucken und ich schlussfolgerte daraus, dass es garantiert damit zu tun hatte, dass sie gestern geweint hatte. Sie hatte es im Übrigen sehr gut überspielt. Das konnte Alice gut. Von Sachen ablenken, aber es tat ihr nicht besonders gut, denn das führte immer dazu, dass sie alles in sich hinein fraß.
„Was für ein Vorfall?", fragte Nora.
Jetzt ergriff Julie das Wort: „Ich hatte einen Streit mit meinen Eltern und hab meinen verehrten Freund beim Fremdgehen erwischt. Und das noch mit meiner besten Freundin, die jetzt definitiv nicht mehr meine beste Freundin ist. Deshalb hab ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten und mich in den nächsten Zug gesetzt. Ich hab Alice erst angerufen, als ich hier am Bahnhof war, denn zu Eva und Lukas hätte ich nicht fahren können. Das wäre echt komisch gekommen."
„Oh." Nora wirkte betroffen und man sah ihr an, dass sie es bereute nachgefragt zu haben.
Ich beschloss das Thema zu wechseln: „Wer sind Eva und Lukas?"
Das brachte Alice aus irgendeinem Grund zum Lachen und führte bei mir zu einem noch größeren Fragezeichen.
„Das sind meine Eltern. Sie haben sich bei ihrem letzten Besuch auch mit ihren Vornamen vorgestellt, aber du bist ja bei Frau und Herr Stegen geblieben."
Ich spürte wie mir die Wärme in die Wangen stieg.
„Das mache ich aber immer automatisch. Ich finde es komisch die Eltern von anderen beim Vornamen zu nennen", verteidigte ich mich.

Der weitere Morgen verging wie im Zug. Irgendwann kam Jana noch dazu und dann frühstückten wir ein letztes Mal gemeinsam bevor es für alle in die „Ferien" ging. Nora verschwand als erstes. Dadurch, dass sie mit dem Auto fuhr wollte sie pünktlich los, um nicht in den Stau zu geraten. Jana verschwand als nächstes, da sie sich dazu entschieden hatte nach Hause zu fliegen, weil es schneller war. Nora hatte ihr noch angeboten sie zum Flughafen zu bringen, aber Jana hatte dankend abgelehnt, da sie ohnehin ein „Rail & Fly"-Ticket gebucht hatte, da sie davon ausgegangen war, dass der Rest von uns früher abreisen würde. Übrig blieben also nur noch Julie, Alice und ich.
Als ich Julie im Bad verschwand ergriff ich die Möglichkeit, um Alice über gestern Nacht auszufragen, denn man hatte ihr eindeutig angesehen, dass es ihr nicht gut ging. Ich schlüpfte in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter mir.
„Alice?", fragte ich.
„Ja?"
„Ich will dich etwas fragen. Wegen gestern."
„Was denn?" Sie sah mich fragend an.
„Du warst gestern so aufgelöst und als ich dich gefragt hab, ob alles in Ordnung ist, hast du mir keine konkrete Antwort gegeben. Muss ich mir Sorgen machen?" Ich dachte an den Moment zurück, als ihr Ex mit ihr Schluss gemacht hatte. Alice hatte tagelang alles für sich behalten und keinen Bissen zu sich genommen.
Alice blickte mir in die Augen und ich konnte sofort die Traurigkeit in ihnen erkennen. Sie holte tief Luft, um etwas zu sagen, aber stattdessen fing sie an zu weinen. Ich nahm sie sofort in den Arm, was vermutlich total komisch aussah, weil sie zwei Köpfe größer als ich war, aber in diesem Moment war das egal.
„Nicht weinen", flüsterte ich. „Egal was es ist, es hat deine Tränen nicht verdient."
Alice Schultern bebten und ein lautes Schluchzen entfuhr ihr. Ich drückte sie fester an mich und strich ihr über den Rücken, um sie zu trösten. Mir war klar, dass ich sie weinen lassen musste, denn in solch einem Moment waren Worte in meinen Augen unangebracht.
Plötzlich ging die Tür auf und es ertönte ein „Leute, wann müssen wir nochmal lo-", aber Julie brach mitten im Satz ab, als sie uns mitten im Zimmer stehen sah. Alice hatte kurz aufgeblickt und sich schnell von mir gelöst, um sich dann umzudrehen und die Tränen aus ihrem Gesicht zu wischen.
„Ali, alles okay?" Julies Gesicht hatte eine andere Farbe angenommen und die Sorge konnte man klar heraus lesen.
„Ja, geht schon", brachte Alice mühsam hervor. Sie ging zu ihrem Tisch und nahm sich ein Taschentuch aus der Dose, auf der Bilder von unserem WG-Urlaub drauf waren, und schnäuzte sich daraufhin kräftig die Nase.
„Du lügst. Nichts ist okay. Du weißt, dass du immer mit mir reden kannst."
Julie ging auf Alice zu und nahm sie in den Arm. „Komm, wir setzen uns jetzt alle auf dein Bett und dann sagst du uns, was dich bedrückt."
Alice starrte Julie an und für einen Moment sah es so aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen, aber dann nickte sie nur und kurze Zeit später saßen wir auch schon auf Alice Bett. Ich war noch schnell in die Küche geflitzt und hatte schnell Schokolade und etwas zu trinken geholt, denn das war bei uns in der WG Tradition. Wenn es jemandem schlecht ging, versammelten wir uns in dem Zimmer derjenigen Person, aßen Schokolade und tranken Apfelschorle. Es war Apfelschorle geworden, weil Jana und ich keinen Alkohol tranken und die Apfelschorle uns alle an schöne Momente unserer Kindheit erinnerte.
„So, und jetzt sag uns bitte, was du auf dem Herzen hast", bat ich Alice und drückte ihr währenddessen die große Tafel Nussschokolade in die Hand. Das war ihre Lieblingssorte.
Sie nahm sie dankend entgegen und brach sich erst einmal ein großes Stück ab, was sie sich auf einmal in den Mund schob, bevor sie – nachdem sie herunter geschluckt hatte – anfing zu reden: „Gestern, als ich auf dem Weg war Julie abzuholen, also vom Bahnhof, da habe ich Jonas gesehen. Also am Bahnhof eben. Ich hab mir nichts dabei gedacht, denn immerhin ist vorlesungsfreie Zeit und er hat ja auch alle seine Klausuren hinter sich. Da geht man eben mal auch unter der Woche weg. Er stand dort mit einem Mädchen. Ria, du kennst sie. Nadine war es. Ich weiß, dass die zwei dieses Semester ein Seminar zusammen belegt haben, weil sie ja auch auf seinem Geburtstag war und ich hab mich damals echt gut mit ihr verstanden. Auf jeden Fall wollte ich gerade rüber zu ihm gehen, er stand immerhin auf der anderen Straßenseiten, aber dann...dann..."
Alice stockte und musste tief Luft holen. Man konnte ihr eindeutig ansehen wie schwer es ihr gerade fiel nicht los zu weinen. Ich drückte ihre Hand, um ihr zu zeigen, dass ich für sie da war. Wenn ich ehrlich war, tat es mir selbst weh sie so zu sehen. Sie war der liebste Mensch, den ich kannte. Nicht einmal einem Käfer oder einer Spinne konnte sie etwas zu leide tun und sie so zu sehen, brach einem echt das Herz. Denn man musste grausam sein, um sie in solch einen Zustand zu versetzen.


Und was, wenn sie doch reden?Where stories live. Discover now