Kapitel 5

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Liebes Tagebuch,

irgendwie war heute ein komischer Tag. Die ganze Sache mit Alice geht mir immer noch nah. Ihr Freund ist ein Arschloch und das hätte ich echt nicht erwartet. Wieso tut man das jemandem an? Wieso gibt es so grausame Menschen auf dieser Welt?
Aber jetzt mal weg von den negativen Sachen. Ich muss dir über Julie erzählen. Dieses Mädchen will mir nicht mehr aus dem Kopf gehen und das finde ich richtig komisch! Aber ich muss sie dir einfach beschreiben. Ihre Augen sind einfach wunderschön. Das eine ist grün und das andere ist blau. Eisblau und so ein intensives, wunderschönes, strahlendes, helles grün. Und weißt du, was das krasse ist? Ihre Augen strahlen um die Wette! Und sie hat eine kleine Stupsnase umgeben von Sommersprossen, die aussehen wie aufgemalt. So wunder-wunderschön! Und erst diese geschwungenen Wimpern in Kombination mit den Augen. Man hat gesehen, dass sie ungeschminkt war, aber sie braucht die ganze Schminke gar nicht, auch, wenn sie mit wahrscheinlich noch schöner aussehen würde. Ihre Haare sind wellig und dunkelbraun – und sie glänzen so toll. Wie in den ganzen TV-Werbungen und guess what? Das sind einfach mal ihre echten Haare und ihre Naturhaarfarbe. Und ihr Duft. So lecker. Irgendwie süßlich, fruchtig und frisch zugleich. Weißt du noch von dem Parfüm, von dem ich dir erzählt habe? Genau danach riecht sie und es ist einfach witzig, dass ich mir dieses Parfüm erst letztens gekauft habe.
Irgendwie will sie mir nicht aus dem Kopf gehen. Sie ist die ganze Zeit hier, in meinem Kopf. Selbst als ich vorhin am Bahnhof ankam und Mama und Papa mich abgeholt haben. Ich habe sie nur geistesabwesend begrüßt. Zumindest kam es mir innerlich so vor, denn mit meinen Gedanken war ich bei Julie. Ich hoffe mal, dass sie nichts gemerkt haben, denn ich habe probiert es überschwänglich zu überspielen, aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob mir das wirklich gelungen ist. Es wäre etwas blöd, wenn nicht.
Übrigens war Lilly am Bahnhof nicht dabei. Sie war beziehungsweise ist immer noch nicht zu Hause. Sie kommt erst morgen, weil sie bei einer Freundin ist, was mir ehrlich gesagt recht ist, denn irgendwie habe ich keine Lust ihr entgegen zu blicken. Ach ja, ich denke nicht, dass sie etwas gesagt hat, denn Mama und Papa haben nichts gesagt. Als Papa vorhin zum Sport verschwunden ist, ist Mama zu mir gekommen und hat mir den üblichen Vortrag gehalten. Von wegen ich soll keinen Freund haben, nicht schwanger werd und so weiter eben. Diesen typischen Vortrag, den sie mir schon tausende Male gehalten hat und wie immer noch mit der Ergänzung, dass man keine richtigen Freunde hat. Alle nutzen einen nur aus, und weißt du was, Tagebuch, manchmal glaube ich das wirklich. Ich kann nicht wirklich damit leben, wenn jemand mal nett zu mir ist. Ich denke die ganze Zeit immer, dass die Sache einen Haken haben muss, aber dabei will die Person nur ihre Freundlichkeit zeigen. Es ist schon schrecklich wie sehr solche Vorträge einen beeinflussen können, oder?
Vorhin beim Essen haben Mama und Papa übrigens verkündet, dass sie Sonntag zum Gottesdienst fahren und ich mit muss. Ich habe erst überlegt eine Ausrede zu liefern, aber dann habe ich doch ja gesagt. Ich weiß nicht wieso. Vielleicht, weil ich sonst Schuldgefühle haben würde. Wie immer. Ich kann auch wirklich zu nichts nein sagen. Obwohl ich es eigentlich nicht schlimm finde zum Gottesdienst zu gehen, finde ich es dennoch schrecklich. Es liegt nicht an meinem Glauben, denn ich glaube wirklich, sondern viel mehr an den Leuten. Wie sie einen mustern und über andere reden ... und das an diesem Ort. Wie kann man so etwas nur tun? Wieso macht man das? Ich kann es nicht nachvollziehen, aber ich würde es manchmal verstehen. Denn diese Leute sind der Grund, wieso meine Eltern so denken. Denn sobald etwas ist, fangen sie an zu reden und von klein auf wird uns eingetrichtert, dass die Leute nur die guten Sachen von dir sehen dürfen. Aber niemals die schlechten, denn dann reden sie. Und das ist schlecht. Das darf nicht passieren und es ist auch der Grund wieso ich nie etwas sage. Über meine innersten Gefühle. Über meine dunklen Gedanken, die durch diese Gesellschaft und das Mobbing in all den Jahren entstanden sind. Der Grund für meine Depressionen stammt da ab. Aber manchmal frage ich mich: was, wenn ich es wirklich tue? Was, wenn sie dann doch reden?

Deine Ria

Ich betrachte meine Worte einen Moment und packe mein Tagebuch dann weg. Verstecke es in meinem Rucksack im hintersten Fach. Denn da geht keiner ran. Früher habe ich mein Tagebuch immer in meinem Kleiderschrank versteckt, aber seit dem ich wusste, dass Lilly oder Mama manchmal dran gingen, wenn sie ein bestimmtes Kleidungsstück von sich suchten, hatte ich es gelassen und meinen Rucksack genommen. Denn dieses Notizbuch barg meine tiefsten Gefühle und Gedanken und kein anderer durfte jemals seine Nase in sie stecken.
Meine Zimmertür ging auf und meine Mutter steckte den Kopf herein.
„Du bist ja noch wach, Ria", stellte sie auf Punjabi fest. Punjabi war meine Muttersprache. Die Sprache, die ich als erstes gelernt hatte, aber dennoch nicht als bestes beherrschte. Eine Sprache mit wunderbarem Klang und so viel Respekt.
„Ja", antwortete ich auf Deutsch. Aus Gewohnheit.
„Geh schlafen. Wir bekommen morgen Besuch und müssen früh aufstehen. Es gibt noch viel zu tun."
„Besuch? Von wem?", fragte ich und rollte innerlich mit den Augen. Besuch war das Letzte, was ich wollte. Schließlich wollte ich Zeit mit meinen Eltern verbringen und nicht mit anderen Menschen. Besuch war eigentlich schön und gut, aber bei uns war es Stress. Denn wir mussten erst einmal das ganze Haus von oben bis unten reinigen und dann wurde noch aufwendig gekocht. Ach ja, sich in das eigene Zimmer verziehen war tabu. Egal wie lange der Besuch da war und egal wie viel man zu tun hatte. Denn es war unhöflich. Ich verstand auch wieso es unhöflich war sich zu entschuldigen und in sein Zimmer zu verschwinden, aber waren die Gäste mehr als 4 Stunden am Stück da, so wurde es irgendwann unangenehm dazusitzen und es würde unhöflich sein, wenn ich in meinem Zimmer verschwinden würde. Und, wenn die Gäste dann weg waren, dann stand das große Aufräumen an und meine Mutter würde sich wieder aufregen. Ob die Kinder der Gäste oder ihre Einstellung. Irgendetwas war es immer.



Und was, wenn sie doch reden?Where stories live. Discover now