Kapitel 4

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„D-dann fing er an..." Sie schluchzte. „Er hat sie geküsst und sie w-wirkten so vertraut." Dann veränderte ich etwas in ihrem Blick. „Ich musste ihn zur Rede stellen und weißt du, was er gesagt hat? Er hat gesagt, dass er das erklären kann und erst wollte ich seine Erklärung nicht hören. Aber dann meinte er, dass sie ihn gerade geküsst hat und ich war so dumm und hab es ihm geglaubt. Ich hab stattdessen ihr eine geklatscht. Und später, als ich dann am Gleis stand waren sie wieder da, nur haben sie mich nicht gesehen und er hat dann gelacht. Gelacht! Sie haben mich gemeinsam verarscht. Er hat gesagt, dass ich so dumm sei und ihm alles abkaufen würde und sie meinte, dass ich das dümmste Mädchen sei, dass sie kennt. Dann haben sie gelacht. Über mich und..." Alice schluchzte laut auf, vergrub dann das Gesicht in meiner Schulter und fing an zu weinen. Sie weinte laut und es trieb mir selbst die Tränen in die Augen. Was sie erzählt hatte, hatte mich wütend gemacht, aber sie so weinen zu sehen brach mir wirklich das Herz.
Ich legte meine Arme um Alice und Julie umarmte sie von der anderen Seite und eine Weile saßen wir so da. Keiner sagte etwas. Wir ließen Alice weinen und nach einiger Zeit kullerte auch mir eine warme Träne über die Wange.

Ich rieb mir die Augen. Alice und Julie waren schon vor einer Weile ausgestiegen und ich war natürlich direkt eingeschlafen, denn ich hatte die Müdigkeit in jeder Faser meines Körpers gespürt. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich noch eine Stunde Fahrt vor mir hatte und irgendwie erleichterte es mich auf der einen Seite, doch auf der anderen Seite rief es ein mulmiges Gefühl hervor. Ich freute mich meine Eltern und meine Schwester endlich wieder zu sehen, aber auf der anderen Seite wollte ich sie gar nicht sehen. Vor allem nicht Lilly. Nicht nachdem, was sie gesagt hatte. Sie sagte zu mir immer, dass ich sprach ohne nachzudenken und damit auch manchmal Leute verletzte. Sie warf mir diese Eigenschaft immer vor, dass ich kein Blatt vor den Mund nahm und sagte, was ich dachte. Dabei waren ihre Worte die verletzenderen. Sie wählte sie bewusst und sie wusste, wie man jemanden verletzen konnte. Ich bereute es, ihr damals über meine Depressionen erzählt zu haben. Denn bei unserem letzten Streit hatte sie es gegen mich verwendet. Sie hatte mich als krankes Monster bezeichnet, das eingewiesen gehört und schon allein der Gedanke daran ließ die Tränen in meine Augen schießen. Sie sagte immer, dass sie für mich da war, aber ich hatte eher das Gefühl, dass sie Sachen suchte, die sie gegen mich verwenden konnte. Ich kniff die Augen zusammen, um die Tränen zurück zu halten. Ich dachte daran wieder daran wie alle anderen total enge Beziehungen zu ihren Geschwistern hatten und dann kam ich. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich hasste, obwohl sie keinen Grund dazu hatte. Mama und Papa liebten sie doch sowieso mehr als mich. Ich war doch nur die Enttäuschung, die Depressionen hatte. Dabei existierte diese Krankheit in ihren Augen nicht mal. Ich hatte ja nicht einmal zu professioneller Hilfe gedurft, als ich es wollte. Denn es gab ja die anderen Leute. Wenn die Leute davon irgendwie Wind bekamen, dann würden sie reden. Sie würden sagen, ich sei verrückt und dass es die Schuld meiner Eltern war. Dass diese sich nicht genug um mich gekümmert haben. Das war ihnen wichtig. Dieses Bild nach außen. Sie wollten das Bild einer perfekten Bilderbuchfamilie aufrecht erhalten. Wenn es nach ihnen ginge, würde ich mein Studium beenden, einen Job finden und dann den Mann heiraten, der laut ihnen am besten zu mir passte. Aber es durfte kein x-beliebiger Mann sein. Es musste ein Inder sein oder zumindest mussten die Eltern beide Inder sein. Es machte keinen Unterschied, ob er in Deutschland oder Indien aufgewachsen war. Und wichtig war, dass er gut gebildet war. Am besten Arzt. Und er sollte gläubig sein, so wie meine Eltern. Außerdem sollte er keins dieser Arschlöcher sein, die ihre eigene Familie über alles stellen. Es sollte jemand sein, der uns Töchter und die zukünftigen Kinder in seinen Mittelpunkt stellte. Bei all diesen Gedanken konnte ich inzwischen nur noch kotzen. Als Kinder hatten wir uns den Traumprinz genauso ausgemalt, aber jetzt tat ich das nicht mehr und bei meiner Schwester wusste ich nicht, was sie wollte. Der letzte Stand war, dass sie nicht heiraten wollte, was für meine Mutter der größte Schock war. Denn sie wollte alle ihre Wünsche ausleben. Die wunderschöne, indische Traumhochzeit im Hause Gottes. Und natürlich mit einem Mann. Das war der Aspekt, der mich am meisten störte. Es war nicht so, dass ich Männer nicht leiden konnte. Als Freunde waren sie super, aber eine Beziehung oder den Rest des Lebens mit einem Mann verbringen? Ausgeschlossen. Es ekelte mich an und jagte mir einen Schauer über den Rücken.
Ich schüttelte mich.
Was denkst du da schon wieder?
Ich beschloss mich abzulenken. Dafür schloss ich die Augen und das erste, was mir in den Sinn kamen waren diese atemberaubenden Augen, die mein Herz schneller schlagen ließen. Eins blau, und das andere grün. Und dann die geschwungenen Wimpern und die Sommersprossen, die wie drauf gesprenkelt aussahen. Ich musste lächeln. Mir gefiel dieses Bild. Was Julie wohl in diesem Moment tat? Mir war vorhin bei unserer Umarmung aufgefallen, dass wir das gleiche Parfüm benutzten. Zumindest benutzte ich es ab und zu, aber ich liebte den Duft. Der Gedanke an Julie brachte auch den Geruch in meine Nase zurück, auch, wenn ich das Parfüm in diesem Moment nicht trug. Wärme erfüllte mich von innen und mein Lächeln wurde breiter.
Julie. Was für ein schöner Name...und was für ein schönes Mädchen.
Halt, was denkst du da nur, Ria? Schönes Mädchen? Seriously?
Ich schüttelte den Kopf. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass mir immer noch zu viel Zeit blieb, bis der Zug an dem Bahnhof ankam, an dem meine Eltern auf mich warten würden. Oder eher meine Mutter. Mein Vater musste noch arbeiten und hoffentlich war Lilly noch nicht zu Hause, denn dann konnte ich noch die Auszeit genießen bevor sie da war und womöglich noch andere Fragen stellen konnte.
Plötzlich hatte ich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Was, wenn Lilly schon etwas gesagt hatte? Immerhin lebte sie näher an dem Haus unserer Eltern als ich. Ich schluckte schwer. Ein Klos bildetet sich. Ich musste tief durchatmen, um ruhig zu bleiben. Für einen Moment zog ich es in Erwägung mein Handy erneut aus der Tasche heraus zu holen und ein Ticket zurück zu buchen. Zwar wäre ich dann alleine, aber dann müsste ich niemanden Rechenschaft schulden.
Nein, Ria! Das tust du nicht. Sie hat es versprochen, vergessen?, sagte ich in Gedanken zu mir selbst.
Aber mein Körper verkrampfte sich trotzdem und mein Hand wanderte automatisch zu meinem Handy. Nur nahm ich zitternd meine Kopfhörer von meinem Schoß und setzte mir sie schnell auf. Ich musste nicht lang scrollen und da war sie, die Playlist, die mich beruhigte. Größtenteils mit Liedern von Shawn Mendes und weiteren meiner Lieblingssänger. Die ersten Klaviertöne beruhigten mich gleich und das Einsetzen von Shawns Stimme gab mir den Rest. Ich war ruhig und gab mich vollkommen der Musik hin. Leise summte ich mit und in diesem Moment war es mir egal, ob jemand mir zuhörte. Denn wenn mich die Musik erfüllte, war mir alles egal. In solchen Momenten konnte die Welt untergehen, aber ich war versunken in meiner eigenen Welt und keiner konnte diesen magischen Moment stören.

Und was, wenn sie doch reden?Where stories live. Discover now