Der Sohn Westhams

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»Was glaubst du? Wie viele Vögel haben sie wohl dafür geschlachtet?«

Elena, einzige Kämpferin der Drachengarde und königliche Leibgardistin, trat neben ihn, die Lippen verächtlich verzogen. Sie hasste Bälle ebenso wie er. Drachentöter gehörten an die Front statt zwischen Röcke und affektiertes Lachen. Ein Flecken Kupfer in all dem tristen Grau. Harte Schuppenpanzer zwischen federgeschmückten Häuptern.

»Sie sehen aus wie gerupfte Hühner«, fuhr sie geringschätzig fort. »Hast du gesehen, was die dicke Baronin auf dem Kopf trägt? Das ist ein halber Strauß!«

Er hatte es nicht gesehen.

Er hatte nur Augen für die Prinzessin gehabt. Für die Federn, die ihre nackten Schultern umspielten: Maywaters Wahrzeichen in Gold gegossen.

»Du solltest den Wüstenkönig grüßen. Es war ein Fehler, zuerst zu ihr zu gehen.«

Er sparte sich eine Erwiderung. Elena wusste, weshalb er der attischen Prinzessin den Vorzug gegeben hatte. Einer der Nachteile der Drachengarde: Sie kannten einander zu gut, ihre Stärken und ihre Schwächen. Seine war offensichtlich. Als ob all die Jahre nicht mehr existierten, in denen er Nacht für Nacht in Tavernen und Bars und den warmen Körpern fremder Frauen ertrunken war in dem Versuch, Mary zu vergessen.

Vergeblich, wie er erbittert feststellte.

»Dein Glück, dass der Wüstenkönig senil ist«, spottete Elena. »Dein Vater hätte dich für die Missachtung der höfischen Etikette hängen lassen, nachdem er dich zuvor geköpft hätte – oder andersrum.«

Er brachte sie mit einem Blick zum Verstummen und trat innerlich fluchend vor den Thron. Der Wüstenkönig sah kaum auf, er hätte es ebenso gut lassen können.

Senil. Elena hatte ja keine Ahnung.

»Eure Majestät«, grüßte er knapp und zwang sich zu einem höflichen Lächeln.

Die aschgrauen Augen des Königs weiteten sich, das einzige Anzeichen dafür, dass noch Leben in dem Skelett steckte. »Kronprinz Phillip ...«

Das Lächeln erstarb. »Prinz Tarek, Eure Majestät.«

»Oh ... Ihr seid nicht ...?«

»Nein.«

Verwirrt blinzelte der Wüstenkönig. »Euer Bruder kommt ebenfalls?«

»Ich bedaure.«

Der Wüstenkönig setzte zu einer Erwiderung an, doch was auch immer er hatte sagen wollen, verlor sich mit der Schärfe seines Blickes. Ächzend sank er zurück, die Finger um die Lehnen geklammert, die Haut so blass wie die eines Toten – was er schon bald sein würde. Sie schrieben es der Trauer zu, all die Adeligen, die ihn aus verkniffenen Gesichtern begafften. Zu Lebzeiten der Schwanenbraut hätten sie es niemals gewagt, ihn derart offen zu kritisieren. Mit ihren Blicken und Gesten, sogar mit Worten. Bis zur Front waren die Gerüchte vom vergehenden Wüstenkönig gedrungen, von dessen Schwäche und verwesendem Leib. Tatsächlich war das, was vor hier auf dem Thron kauerte, nur der Abglanz eines längst verlorenen Regenten. Der Verlust der Liebe hatte den Wüstenkönig gebrochen.

»Tarek ...« Elena griff nach seinem Arm. Niemand sonst wagte das – weder seine Kommandanten noch die ranghöchsten Minister seines Vaters. In ihrem Gesicht stritten die unterschiedlichsten Emotionen: Sorge, Schuld und schlechtes Gewissen. Letzteres überwog. Es frustrierte ihn, dass sie geschwiegen hatte und es noch immer tat. Kein Wort des Protestes war über ihre Lippen gekommen, als er den Befehl zum Aufbruch gegeben hatte. Keine Warnung während des langen Ritts durch Maywater, ja selbst als sie dem Goldkönig beim Handelsposten im Zentrum der Wüste begegnet waren, hatte sie geschwiegen. Auch jetzt biss sie sich auf die Lippe. Eine seltsam weibliche Geste, die nicht zu ihr passen wollte. Viel zu oft vergaß er, dass sie eine Frau war. Er sah in ihr höchstens das schlaksige Mädchen, das vor etlichen Jahren an die Drachengarde verkauft worden war. Warum, war ihm ein Rätsel – abgesehen davon, dass sie gut war. Schnell, präzise und tödlich.

Ein Schaf im Wolfspelz.

Eine Kriegerin unter Männern.

Eine Frau, die sich auf die Lippe biss und deren Wangen rot anliefen.

Er versuchte, sie sich in einem der federgeschmückten Kleider vorzustellen, in denen all die Adeligen umherstolzierten. Es misslang kläglich. Er konnte nicht einmal sagen, ob Elena Kurven besaß. Allein der Gedanke erschreckte ihn. Sie war seine rechte Hand. Sein Schild. Sein Rücken. Weshalb ihr Schweigen einem Verrat gleichkam.

»Elena?«, hakte er gefährlich sanft nach.

»Es war eine schlechte Idee, den Ball zu besuchen.«

»Das fällt dir jetzt ein?«

Elena rang mit sich. »Tarek, wir sollten gehen, bevor ...«

»Spar dir die Ausflüchte.«

Ihre Brauen ruckten hoch. »Du weißt von dem Treffen?«

Er zwang sich, ihr nicht den Hals umzudrehen. »So ist es.«

»Wenn du weißt, dass dein Vater den Goldkönig zu sich bestellt hat, dann auch ...«

»Ja«, unterbrach er sie eisig, »auch worüber sie sprechen.«

»Verdamm mich, Tarek! Ich hätte es dir sagen sollen.«

»Hättest du«, bestätigte er, ehe ein Busch aus Pfauenfedern für den Moment seine Aufmerksamkeit fing. Scheinbar zufällig kreuzte seine Trägerin den Weg der Drachentöter, wie ein Dutzend weiterer Damen; allesamt unverheiratet und auf der Suche nach der besten Partie, und solange der Kronprinz von Maywater mit Abwesenheit glänzte, galt diese zweifelhafte Ehre ihm, dem zweitgeborenen Prinzen Westhams. »Mutter schickte einen Königsadler«, teilte er Elena mit, kaum dass der Pfau hinter dem gewaltigen Straußenschmuck der Baronin verschwand. »Sie argwöhnte, ich hätte Einwände gegen diese Vereinbarung ...«

»Zu Recht«, zischte Elena.

»... und erinnerte mich an meine Pflichten«, endete er spöttisch.

»Warum bist du dann hier?«, brach es aus ihr hervor. »Wenn du von den Hochzeitsplänen weißt, warum ...«

»Weil es mir gleich ist«, erwiderte er lakonisch und beschloss, Elena bei der nächsten Drachenjagd an der Front kämpfen zu lassen. Zur Strafe für ihr Schweigen. Sie hasste es, denn wer sich dort befand, bekam die Innereien ab. Eine barbarische Sauerei, die noch Wochen später bis zum Himmel stank.

»Hör auf, sie anzustarren!«

»Ich starre nicht.«

»Wüsste ich es nicht besser, würde ich denken, du verachtest die glückliche Braut.«

»Glücklich«, echote er ätzend.

Elena feixte: »Genau da liegt das Problem.«

Sie würde so was von an der Front kämpfen.

Die nächsten drei Mondzyklen. Mindestens.

»Willst du dich quälen? Ist es das?«

»Ich will zuschauen«, korrigierte er möglichst gelassen.

»Ihr beim Versagen zusehen? Ich bitte dich. Du kannst unmöglich glauben, dass es dir dadurch besser geht – vor allem, wenn dein Vater und der Goldkönig übereinkommen.«

»Oh, das werden sie«, murmelte er.

Sie rang sichtlich mit sich. »Wirst du es zulassen?«

»Das sagte ich nicht.«

»Warum ...«, begann sie erneut, doch er fuhr ihr über den Mund.

»Wir bleiben bis Mitternacht.«

Kurz dachte er, sie wolle noch etwas erwidern, doch sie beließ es dabei.

Sie blieben bis Mitternacht und keinen Moment länger.

Bis dahin würde er sich am Wein laben und an Erinnerungen, die zu süßund zu schmerzhaft waren. Erinnerungen, die ihm den Tod brächten, wenn er ihnennachgab. Denn – ganz gleich, was seine Eltern mit dem Goldkönig vereinbarten –eines stand fest: Niemals durfte er der Verlockung nachgeben. Er war stärkerals der Wüstenkönig. Stärker als sie alle.

Winters zerbrechlicher FluchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt