Die achte Tochter

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Marleene, die achte Tochter des westlichen Königreichs, sorgte eine Weile lang für wilde Gerüchte in der besseren Gesellschaft. Manche würden sogar behaupten, dass sich die Königsfamilie in diesem Jahr mehr Sorgen um Marleene als um die berüchtigte neunte Tochter machen musste ...


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Tick ... tock ... tick ... tock ... tick ...

Mit einem tiefen Seufzer lies ich die Schultern kreisen, die von dem langen Sitzen in der ewig gleichen Position bereits steif geworden waren. Natürlich fing ich mir dafür sofort einen warnenden Blick von der grausamen Genevra ein, die sich für eine Gouvernante damit einiges erlaubte, denn ich war volljährig und könnte sie mit einer Handbewegung feuern. Aus Respekt vor ihrer langjährigen Stellung, Angst vor der Reaktion meines Vaters und vor allem aus Bequemlichkeit tat ich jedoch nichts derartiges, sondern ignorierte sie geflissentlich.

„Wir können gerne pausieren", kam es höflich von hinter der Leinwand. Der Künstler war ein freundlicher Mann in seinen Zwanzigern, der von Ort zu Ort zog, wo auch immer man ihn gerade buchen wollte. Normalerweise hatten wir für wichtige Portraits wie dieses einen angestellten Maler, doch dieser lag zurzeit mit einem schweren Infekt im Bett und hinterließ eine Lücke, die dieser Chet Dorsey nun füllen sollte. In meinen Augen hatte er sich mit der Aussage von gerade eben bereits seinen Lohn verdient, denn der Hofkünstler ließ uns niemals aufstehen, bevor er nicht zufrieden war. Warum Vater ihn wohl nicht loswurde? Vermutlich weil sich nur diese zwei wahrlich exzentrische Menschen wirklich verstanden. „Eure Hoheit?"

„Nein, nein, fahrt fort. Wir hinken dem Zeitplan bereits hinterher", erwiderte ich rasch und nahm wieder die korrekte Position ein. Das Gemälde hätte vor drei Tagen fertig sein sollen, doch Chet Dorsey lies sich gerne Zeit mit seiner Arbeit, damit es, seinen Worten nach, „dem Modell gerecht wurde". Mein Vater ertrug die gelassene Einstellung des Künstlers nur schwer, stimmte mit ihm in letzterem Punkt jedoch überein. Das Gemälde, das zu meiner Hochzeit überreicht werden sollte, musste in seinen Augen perfekt sein. Bei dem Gedanken an die Vermählung in nur sieben Tagen drehte es mir den Magen um und ich schluckte hart. Während der Verlobungsfeier letztes Jahr war mir das ganze noch lustig vorgekommen, immerhin hatte ich meinen Zukünftigen erst einige Male gesehen und nun hatte man uns auf einem folgenschweren Fest an eine Tafel gesetzt und einander mehr oder weniger überraschend als zukünftiges Ehepaar vorgestellt. Ich hatte stets gewusst, dass die Möglichkeit einer arrangierten Verbindung durch meinen Vater bestand – falls es denn unserer Familie zu irgendeinem Vorteil gereichen würde -, doch real war es für mich erst geworden, als die Zeit voranschritt und ich mich auf einmal mit all den Hochzeitsvorbereitungen konfrontiert sah. Ein enormes, weißes Brautkleid wurde geschneidert, in der Küche diskutierte man seit Tagen über nichts anderes als das ausladende Buffet und den köstlichen Kuchen und von allen Seiten konnte ich mir frühe Glückwünsche und aufgeregtes Getuschel anhören. Selbst meine Schwestern stimmten in diesen begeisterten Chor ein, denn noch mit keiner einzigen hatte ich mich darüber unterhalten, was ich über Grady dachte. War das denn überhaupt von Belang?

Ich begegnete dem konzentrierten Blick des Künstlers, dessen grünes Augenpaar immer wieder über der Staffelei auftauchte, bevor er sich wieder in seine Farben vertiefte, und blinzelte. Mein Verlobter Grady, Lord of Kinstone, hatte ebenfalls ein Paar strahlend grüner Augen, das zumeist überaus freundlich unter dem strohblonden Haarschopf hervorschaute und mit wenigen Ausnahmen alles für gut und genehm befand, das es entdeckte. Ihn naiv zu nennen wäre womöglich ein wenig übertrieben, doch er hatte ein einfaches Gemüt. Mit ihm als Gatten wäre mein Leben sicherlich ruhig, beschaulich und unaufregend. Eine plötzliche Welle der Panik ergriff mich, als sich ein Bild von mir, gealtert, in Schürze und umringt von Jagdhunden und einer strohblonden Kinderschar vor dem ländlichen Anwesen der Kinstones vor mein inneres Auge schob. Nein! Nein, so konnte und wollte ich nicht leben! Ich war vielleicht wohlerzogen, doch ich genoss die Ausgelassenheit der Feiern, die unverbindlichen Tänze, die laute Musik und heitere Gesellschaft, die zeitlich unbestimmten Reisen in alle wilden Ecken des Königreichs, ich wollte so viel mehr sehen und erleben, aber als Lady of Kinstone würde ich meine Tage im letzten Winkel des westlichen Königreichs verbringen und meinen Kindern im stillen Kämmerchen Geschichten vom Hofe erzählen.

Die Chroniken von Silber und GoldWhere stories live. Discover now