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Kapitel 4

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Wir betraten die Höhle. Die Dunkelheit verschlang uns. Meine Augen mussten sich erst an sie gewöhnen, bevor ich Des Schatten folgen konnte. Ihm schien die Dunkelheit nichts auszumachen. Ich hingegen stolperte über jede kleine Erhebung des Bodens.

»Du wirst sie mögen. Sie wird dir alle Fragen beantworten, die du hast«, versprach Des. Damit er recht behielt, müssten wir gerade auf dem Weg zu einer Seelenklempnerin sein. Mein Gehirn spielte mir böse Streiche. Langsam machte ich mir echt sorgen, dass meine Halluzinationen permanent sein könnten. Seit ich auf Gaia angekommen war, hatte ich die seltsamsten Dinge beobachtet, für die es keine logische Erklärung geben konnte.

»Ist sie eine Hellseherin?«, fragte ich ironisch. »Ja, so etwas in der Art«, antwortete er und lächelte mich sanft an. Sein lächeln erreichte jedoch nicht seine Augen. Er schien besorgt zu sein. Am Ende des langen Ganges sah ich ein helles Licht, welches immer heller wurde, umso näher wir kamen. Der Gang breitete sich zu einem großen Raum aus, den wir schließlich betraten.

In der Mitte stand eine alte Frau mit langen, zotteligen Haaren. Irgendwo hatte ich sie schon einmal gesehen. Erst als sie zu uns blickte, erkannte ich sie als die Frau, die mich auf dem Fest der Wechselwende ständig angestarrt hatte. Sie sah noch genauso gruselig aus. Ihre Augen bohrten sich förmlich durch mich hindurch und ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken runter. Die Flammen des Lagerfeuers, vor dem sie stand, spiegelte sich in ihren Augen wider.

Des ging zu ihr rüber und begrüßte sie – für einen kurzen Moment ließ sie ihren Blick von mir ab. Um nicht unhöflich zu erscheinen tat ich es Des gleich und begrüßte die Frau. Ihr Blick durchdrang mich wieder und ich fühlte mich unwohl. Es fühlte sich an, als würde sie durch mich hindurch starren, einen Einblick in meine Seele haben.

»Deshar, was führt euch zu mir?«, fragte die Frau Des, ohne ihren Blick von mir abzuwenden. »Sie ist so weit«, erwiderte Des knapp und ich sah, wie seine Augen leuchteten. »Bist du dir sicher? Wir haben nur eine Möglichkeit. Wenn du dich irrst, wird es fatale Folgen haben«, antwortete sie ihm und wandte endlich ihren Blick von mir ab. »Ich irre mich nicht. Sie muss so weit sein.« Was sollte es denn für Folgen haben, mir ein paar Antworten zu geben? Ich hielt diese ganzen Vorhersagen eh für schwachsinnig.

»Folge mir, Ivy«, befahl sie mir und ging tiefer in die Höhle hinein.

Mit einem letzten Blick zu Des, der mir aufmunternd zu nickte, folgte ich der Frau. Im Nachhinein weiß ich nicht, ob ich genauso gehandelt hätte, wenn ich gewusst hätte, was dieser winzige Augenblick meines Lebens alles zerstören würde. Dieser Moment veränderte den Verlauf meines restlichen Lebens. Aber zu diesem Zeitpunkt ahnte ich es nicht. Sie führte mich in einen kleineren Raum und deutete an, Platz zu nehmen. Die Neyfrem setzte sich mir gegenüber.

»Mein Name ist Hylohsar. Du hast bestimmt viele Fragen, aber ich würde dir lieber eine Geschichte erzählen, die sich vor fast hundert Jahren abspielte. Sie wird dir helfen zu verstehen.« Ohne auf meine Antwort zu warten, begann sie mir eine Geschichte zu erzählen.

»Vor genau 87 Jahren gebar unsere große Anführerin Alyana Zwillinge. Ein Mädchen und ein Junge, Mayser und Mehyl. Einer von ihnen sollte nach dem Tod ihrer Eltern deren Platz einnehmen und uns anführen. Alyana und ihr Mann, Tuyay, waren gütige Anführer. Sie wollten, dass die Tradition fortgeführt wurde und ihre Kinder sich die Position verdienten. Damals, am Tag ihrer Geburt, war ich 26 Jahre alt und hatte erst seit wenigen Monaten meine Ausbildung begonnen, als ich meine erste Vorhersage machte. Ich hatte eine Vision«, sie atmete tief ein und wollte gerade fortfahren, als ich sie unterbrach. »Warten Sie. Heißt das, dass Sie 113 Jahre alt sind?«

»Ja, aber das ist in diesem Moment nicht das Wesentliche. Meine Vision war schrecklich. Ich sah beide Geschwister als Erwachsene und auch, wie unsere Zukunft aussehen würde. Mit dem Mädchen als unsere Anführerin würden wir Frieden haben und ein ruhiges Leben unter ihrer Herrschaft führen. Sie war freundlich, ehrlich und kümmerte das Wohlergehen der Neyfrem.« Die Frau sah mich vielsagend an. Ihre Mine verdüsterte sich, bevor sie weitersprach.

NeyfremWhere stories live. Discover now