Michaels Rache

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"Verdammt nochmal, wo ist der Schlüssel, Jen?!?", rief ich von meinem Zimmer raus auf den Flur in der Hoffnung, meine Frau würde mich hören. Letztendlich fand ich den Schlüssel in meiner Tasche ... da, wo er auch hingehört. "Schon gut, ich muß nochmal weg. Jen? Jennifer?!", ich hatte keine Zeit, sie im Haus zu suchen und mich von ihr zu verabschieden. Deshalb legte ich das rote Kreuz auf unser Sideboard im Flur. Das ist unser Zeichen für solche Fälle. Für Notfälle. Kurz zuvor hatte mich mein Pieper beim Duschen gestört. Eigentlich hatte ich frei. Nach vielen Schichten endlich ein Wochenende zu Hause, bei meiner Frau. Aber so ist das nunmal, wenn man Arzt ist. Allzeit bereit. Also zog ich mich schnell an, sprintete die Treppe hinunter und stieg in mein Auto. Die Freisprecheinrichtung verband mich mit der Notaufnahme und Frank schilderte mir den merkwürdigen Notruf. Es war ein anonymer Anruf. Ich, Tom und kein anderer, sollte schnellstmöglich zur roten Lagerhalle am Fluss kommen. Es ginge um Leben und Tod. "Mehr hat der Anrufer nicht gesagt? Was mich wohl da erwartet. Und ein Scherz war es auch nicht?", sprach ich lauter als nötig in die Windschutzscheibe. Es regnete. Der Verkehr floss zäh durch die Innenstadt. Frank räusperte sich: "Nein, das war sicherlich kein Scherz. Der Typ sagte, wenn das halbwegs gut ausgehen soll, dann solltest Du alleine kommen. Im Hintergrund hörte ich Männerstimmen." Ich verabschiedete mich von Frank und legte auf. In meinem Kopf drehte sich alles. Solche sonderbaren Notrufe gibt es selten. Der letzte kam als ... ja als Billy in der Klemme steckte. Ohnein. Billy. Mein Bruder. Nicht schon wieder. Ich schlug aufs Lenkrad und verfluchte alle anderen Autofahrer - und Billy. Noch eine Kreuzung und ich würde den Hafen sehen. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor bis ich endlich das Hafengelände erreichte und auch schon bald das rote Lagerhaus in mein Blickfeld rückte. Das große Tor war offen und ich fuhr sehr langsam hindurch. Ich stellte meinen Wagen schräg hinter zwei schwarzen Lieferwagen ab. Ein mulmiges Gefühl überkam mich, dennoch mußte ich aussteigen und meine Pflicht erfüllen. Ob ich die Polizei einschalten sollte? Billy ... Nein, keine Polizei. Es kann nur um Billy gehen. Die ganze Umgebung schrie förmlich: Hier geht es um Deinen Bruder, Tom! Ich atmete einmal tief ein und stieß die Luft hörbar laut und fest aus. Also los. Aus dem Kofferraum holte ich meine Tasche. Wohin nun? Ich entschloss, zwischen den beiden Lieferwagen hindurchzugehen. Kaum öffnete sich vor mir der Lagerraum, kam auch schon ein großer, kantiger Mann aus einer der hinteren Türen. Er blieb stehen und rief: "Bist Du Tom?" Hier bin ich also richtig. "Ja, der bin ich." Der Mann winkte mich zu sich. Zu meiner Verwunderung bagann er, mich abzutasten. Ob er wohl denkt, ich habe eine Waffe? "Das gefährlichste, was ich dabei habe, ist ein Skalpell!", sagte ich, um die Situation ein wenig zu lockern und meine Nervosität zu überspielen. Doch der Mann schaute mich nur grimmig an und knurrte: "Da lang!" Die Tür fiel hinter mir krachend ins Schloss. Dumpfe Männerstimmen drangen an mein Ohr. Ich wurde unsanft vorwärts geschoben und dann sah ich drei Männer. Der eine hielt in der rechten Hand einen Schlagring der andere hatte seine Schrotflinte griffbereit unter dem Arm klemmen und der dritte hatte in jeder Hand einen Schlagstock. "Was ist denn hier los?", fragte ich reflexartig, obwohl mir schon klar war, wer diese Männer waren und wer das Opfer war, das ich noch nicht entdeckt hatte. Der Kerl mit den Schlagstöcken wandte sich zu mir um: "Ahhh, der Herr Doktor. Guck Dir den mal an. Macht er noch lange?" Ich schluckte hart und schaute an dem fiesen Typ vorbei. Was ich nun sah, liess mir das Herz gefrieren. In ca. 5 Metern Entfernung war ein Mann. Und obwohl er kniete, die Augen verbunden hatte und geknebelt war, erkannte ich ihn sofort. Das war Billy. Ich kenne seinen Oberkörper aus- und leider auch innwändig. Ich habe schon etliche Wunden genäht und Narben auf seiner Haut hinterlassen. Immer dann, wenn er auf meinem OP-Tisch, auf meiner Couch oder meinem Küchentisch lag, bangte ich um sein Leben und er? Er scherzte noch und versuchte mich immer wieder zu beruhigen. Billy kniete also auf dem Boden. Seine Hände waren mit silbernem Isolierband an eine Stange gebunden, die über seinem Kopf war. Sein Kinn lag auf der Brust, er mußte bewußtlos sein. Ich entdeckte zwei Einschußlöcher, eins in der rechten Brust und eins in der rechten Schulter. Die einzelnen Verletzungen auf seinem Oberkörper waren kaum auszumachen. Überall Blut. Seine Jeans war rot eingefärbt und um seine Knie hatte sich eine Blutlache gebildet. Mein Herz fing wieder an zu schlagen und raste nun wie verrückt. Am liebsten wäre ich dem Mann mit den Schlagstöcken an den Hals gegangen, aber was hätte das gebracht? Stattdessen sah ich zu, wie er auf Billy zuging, sich in Position stellte und ausholte. Mit einem Zischen sauste der Stock nieder und klatsche auf Billys Rücken. Blut spritze und Billy schrie unterdrückt auf. Er war also nicht bewußtlos. Wie konnte ich das auch denken. Billy hatte schon viel mitgemacht, mir ist es weiterhin ein Rätsel, wie er doch immer so stark sein kann und nicht das Bewußtsein verliert. Mit zittriger Stimmer sagte ich: "Aufhören!" Billy, hob seinen Kopf in meine Richtung. Unmerklich schüttelte er ihn. War das ein Zeichen für mich? Unvermittelt sauste wieder der Schlagstock nieder. Diesmal auf seine Brust. Er warf den Kopf nach hinten, stöhnte auf. Ein Blutschwall rann über seinen Bauch und tropfte vom Gürtel auf den Boden zwischen seine Knie. "Bitte ... darf ich ihn mir ansehen?", bat ich in der Hoffnung, daß die Folter nun ein Ende hatte und die Kerle fertig waren. "Ja doch, Doc, deshalb bist Du doch hier. Um mir zu sagen, ob ich weitermachen darf oder ob ich ihn mir ein anderes Mal wieder holen komme", sagte der Mann, der nahe bei Billy stand. Ich straffte meine Schultern und ging zu Billy herüber. Je näher ich kam, umso schlechter ging es mir. Meine Hände zitterten, mein Herz schlug mir bis zum Hals. "Um festzustellen, wie es ihm geht, würde ich gern mit ihm sprechen und seine Augen sehen", sagte ich etwas zu leise, aber es kam an. Billy hatte seinen Kopf wieder in meine Richtung gehoben. Der Typ kam zu uns, beugte sich zu Billy hinunter und griff hart in seine Haare, um ihm den Kopf nach hinten zu drücken. Mit zusammengekniffenen Lippen riss er ihm den Knebel und die Augenbinde vom Kopf. "Ich möchte gern alleine mit ihm sprechen", sprach ich schon wieder etwas selbstbewußter und bedeutete dem Mann, daß er zur Seite treten soll. Das tat er auch, ließ mich aber nicht aus den Augen. Ich kniete mich zu meinem Bruder nieder. Es war nicht möglich, sich nicht die Hose einzusauen. Jetzt konnte ich Billy in die Augen sehen. Sie waren zu meinem Erstaunen sehr wach und klar. Er musterte mich - wohl ob ich unversehrt war - und ein Lächeln umspielte seinen Mund. "Wie kannst du lachen?", zischte ich verärgert. Billy hustete. Er mußte sich sehr konzentrieren, bevor er sprach. Sein Atem ging schnell und sein Gesicht verzog sich vor Schmerzen. "Du bist unverletzt.", drückte er mühsam heraus und grinste auch schon wieder. Am liebste hätte ich auch nochmal zugeschlagen, aber darüber hätte er gewiß nur gelacht. "Billy, was wollen die von Dir? Wie ... was ... wie Du aussiehst!", sagte ich entsetzt während ich ihm mit der Lampe in die Augen schien. Die Pupillenreaktion war schnell und normal. Er folgte mit den Augen meinem Finger und bestätigte mir, daß er gut sehen und hören kann. "Allerdings habe ich wahnsinnige Kopfschmerzen. Meine Arme und Hände sind taub.", sagte er und das Grinsen verschwand augenblicklich. Er blickte mir weiterhin fest in die Augen. Ich untersuchte die Schusswunden. Es waren glatte Durchschüsse und die Wunden waren schon trocken. Ganz anders sah es bei den Verletzungen aus, die durch den Schlagstock verursacht wurden. Sein Oberkörper war voll davon. Manche Wunden klafften weit auseinander. Ich tastete seinen Thorax ab, seine Rippen, wovon einige gebrochen waren, sein Bauch war übersäht mit Prellungen. "Tom, ich habe Michaels Bruder letzte Woche Freitag erwischt.", gestand Billy mir. Verblüfft ließ ich von ihm ab. "Wie erwischt? Eingesperrt? Verprügelt? Ausgeliefert?"  Billys Augen senkten sich: "Erwischt eben. Getötet." "Du hast was? Ist das da drüben Michael? Rächt er nun den Tod seines Bruders?", fragte ich verstört. Doch bevor er mir antworten konnte, hörten wir Sirenengeheul. Michael und seine Kumpanen ergriffen die Flucht. Da war ich erleichtert und ich konnte mich besser auf Billy konzentrieren. "Wie sehe ich denn aus?", fragte Billy und zwinkerte mir zu. "Als hätte jemand versucht, Dich zu schlachten!", brachte ich mit gepressten Stimme hervor. Die Sirenen verklungen wieder. Ein Glück. Polizei konnten wir nun gar nicht brauchen. Ich mußte jetzt schnell handeln, bevor Michael es sich anders überlegte und wieder zurückkam. Ich zückte mein Handy und rief Frank an, damit er mir einen RTW rausschickt. "Ich schneide Dich jetzt los", sagte ich. Aus meinem Koffer holte ich die Verbandschere und löste zuerst den linken Arm von der Stange. Dankbar atmete Billy auf. Sein tauber Arm fiel herab. Ein leichtes Stöhnen entfuhr Billy, doch er presste die Lippen zusammen und schaute mich wie ein schuldiger Welpe an. "Das ist nunmal mein Job. Verbrecher aufspüren und ausliefern oder zur Strecke bringen. Michaels Bruder hat sich nicht so einfach festnehmen lassen, wie Du Dir vorstellen kannst. Es war sowas wie Notwehr könnte man sagen. Nachdem er auf mich geschossen hatte, blieb mir nichts anderes übrig." Ich massierte seinen linken Arm, damit wieder Leben hineinkam. Auch dort waren überall Striemen und Blutergüsse. "Hat er Dich denn auch getroffen? Jetzt sag nicht, daß die zwei Einschüsse von voriger Woche sind." Schuldig biss Billy auf seiner Unterlippe herum. Ich war so sauer. Er war Freitag Abend bei mir. Zu Hause. Zum Essen. Er war bei mir mit zwei Löchern im Oberkörper und hat nichts gesagt. Ich habe ihm allerdings auch nichts angemerkt. Der Schweinehund. Aber so ist er. "Du weißt schon, daß Du einen Arzt zum Bruder hast?!", bemerkte ich. Meine Enttäuschung konnte ich nicht verbergen. Billy bewegte seine Finger und starrte sie an. "Ja, aber es sind zwei Durchschüsse. Ein wenig Erfahrung hab ich nun auch schon und kann mich selber verarzten. Zumindest bei sowas. Tom, ich muß aufpassen, daß Du nicht zu tief mit hineinrutschst. Als ich eben Deine Stimme hörte, habe ich erwartet, daß Du verletzt bist, daß Michael nun weiß, daß wir verwandt sind. Wenn er dich bedroht, dann grantiere ich für nichts mehr. Ich frage mich, warum er ausgerechnet Dich rufen ließ." Das Sprechen machte ihm zunehmend mehr Mühe und bereitete ihm Schmerzen. Er atmete schwer und hustete. Ich schüttelte meinen Kopf: "Ich weiß es doch auch nicht. Bist Du sicher, daß er nicht weiß, daß wir Brüder sind? Beiß mal die Zähne zusammen, ich befreie jetzt Deinen anderen Arm." Billy schaute mich von unten herauf an. Ich sah, daß es ihm immer schlechter ging und beeilte mich. Als ich seinen Arm losgeschnitten hatte, sackte er in sich zusammen und fiel nach vorne. Mit dem linken Arm fing er sich ab, und ich bremste so gut es ging seinen Fall. Vor mir lag, blutüberströmt, eiskalt, mein Bruder. Panik befiel mich. Wo bleibt der Krakenwagen? Ich rollte Billy auf den Rücken und schob meine Jacke unter seinen Kopf. Mittlerweile war ich auch völlig versaut. Meine Hände waren rot, mein weißes Hemd konnte ich nur noch wegschmeißen. "Billy, schau mich an. Ich gebe Dir jetzt was gegen die Schmerzen. Da sind so viele Schnitte, die kann ich jetzt nicht alle behandeln ... nicht hier." Er nickte kaum merklich. Aus meinem Koffer holte ich das Morphium und einige Kompressen. Da seine Arme enorm zerschnitten waren, entschied ich mich, ihm die Spritze in die Halsvene zu setzen. Er entspannte sich ziemlich schnell. Auf den tiefsten Schnitt in seiner Brust drückte ich eine Kompresse, damit es nun endlich mal aufhörte zu bluten. Mir troff der Schweiß von der Stirn. Billys Mund formte ein "Danke". Für das Grinsen, das sogar seine Augen erreichte, hätte ich ihm gern eine reingehauen. Manchmal glaube ich, er ist auf Drogen oder hat sie nicht mehr alle, oder er will mich ärgern.

Tom und BillyWhere stories live. Discover now