James

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"Tom! Mach Dich fertig und nimm alles mit! Chris wartet schon unten im RTW!", tönte es aus dem Mobilteil. Bevor er noch etwas fragen konnte oder ihr sagen konnte, daß seine Schicht zuende war, hatte Sally schon aufgelegt. Tom ist leitender Arzt in einem großen Krankenhaus und daß er zu Einsätzen mitgenommen wird, kommt nicht so häufig vor. Schnellen Schrittes ging er in eines der Behandlungszimmer, um seine persönlichen Dinge für eine Erstversorgung zu holen. Bevor er mit zwei Koffern und dem Dephirucksack zum Treppenhaus laufen konnte, vergaß er fast, die Krankenhausgummischuhe gegen seine Turnschuhe zu tauschen und zwei Formulare mußten noch unterschrieben werden. Am Treppenhaus angekommen öffnete ihm ein zuvorkommender Patient die Tür. Immer zwei Stufen nehmend, war er die vier Stockwerke schnell hinuntergeklettert und stürmte hinaus zum Rettungswagen. Sein Gepäck legte er hinten in den Sprinter und plumpste Sekunden später leicht außer Atem auf den Beifahrersitz. "Was ist denn los? Wo gehts hin?", fragte er Chris, während er sich anschnallte und dann das Clipboard mit den Einsatzpapieren zur Hand nahm. Chris, ein erfahrener Rettungssanitäter, legte den ersten Gang ein und brauste los. Er schaute rüber zu Tom: "Auf den Zetteln wirst Du nichts finden. Eben bekam ich einen komischen Anruf.  Es geht um ehhh um irgendeinen Billy. Kennst Du den?" Tom schaute nachdenklich auf den leeren Berichtszettel, dann lehnte er sich zurück und atmete hörbar schwer aus. "Wo ist er? Was ist denn passiert?", wich er Chris' Frage aus. Der Sani zuckte die Schultern. In der Stadt war einiges los. Berufsverkehr. Es war kurz nach 17 Uhr und alle wollten nach Hause. Doch dank der Sirene und des Blauchlichts kamen sie zügig voran, auch wenn einige Idioten das Gelernte aus der Fahrschule schon wieder vergessen zu haben schienen. Sie fuhren aus der Stadt raus und bogen in einen Feldweg ein. "Die Mühle? Chris, was hat der Anrufer Dir erzählt? Rede doch endlich!" Tom malte sich schon sämtliche Situationen aus, die ihn erwarteten, denn die Erfahrung hat ihn gelehrt, daß ein Anruf von oder wegen seinem Bruder Billy meistens auf seinem OP-Tisch endete. Wie oft hatte er ihn schon zusammengeflickt. Die Kugeln, die er ihm seit einigen Jahren aus seinem durchtrainierten Körper holt, hat er nicht gezählt. Ein paar Mal war es knapp, aber immer wieder hat Billy sich gut erholt, um sich ins nächste Dilämma zu stürtzen.

Tom ist fast auf den Tag genau 3 Jahre älter als Billy und weitaus weniger lebensmüde. Eher der ruhige Typ und schon oft wurde Toms Haus Zufluchtsort für Billy, wenn er in seiner eigenen Bleibe für einen bestimmten Zeitraum nicht mehr sicher war. Meist endete eine solche Phase wieder in einer NotOP, bei der Tom ein, zwei oder mehrere Narben auf Billys Körper hinterließ. Das sind die Spitzen in Toms Leben und er kämpft bis auf den Tod für seinen Bruder, der ihm damals das Leben rettete. Ja, er würde sein Leben lassen, wenn er Billys Leben dadurch erhalten könnte. Daß Tom und Billy Brüder sind, weiß niemand. Es wäre fatal, wenn gewisse Leute davon Wind bekämen. Tom ist Billys einziger Halt, einziger Bezugspunkt und Tom wäre ein guter Köder, wenn Bösewichte Billy aus der Reserve locken wollten.

Chris bog in einen weiteren Feldweg ein und schaltete sogleich die Sirene und das Blaulicht aus. Tom hatte richtig vermutet, daß sie zur alten Mühle fahren würden. "Der Anrufer hat gesagt, daß ein gewisser Billy jetzt schnell Hilfe braucht, er hat viel Blut verloren. Mehr nicht. Ja, und noch, daß er in der Mühle ist natürlich", berichtete Chris und lenkte den Rettungswagen behutsam durch eine schmale Hofeinfahrt auf die Rasenfläche vor der Mühle. Er machte den Motor aus. Die beiden Männer schauten sich kurz an und nickten einander zu. Nachdem sie ausgestiegen waren, holten sie schnell ihre Taschen. Sie gingen auf die Mühle zu. Die große Holztür war einen spaltbreit geöffnet. Es war totenstill. Beide Männer hatten die Hände voll und deshalb schob Chris die Tür mit seinem Fuß auf. Drinnen war es recht finster, aber aus einer Türöffnung drang Licht. Sie steuerten darauf zu und Tom sagte in gedämpftem Ton zu Chris: "Ich hoffe, es ist keiner mehr da außer uns und ... und Billy. Wer weiß eigentlich noch, daß wir hier sind?" Chris drehte sich zu Tom um und erwiderte: "Sally weiß es. Ich habe ihr gesagt, wenn wir in zwei Stunden nicht zurück sind, soll sie die Polizei anrufen." Das reichte Tom als kleine Sicherheit und sie betraten den hell erleuchteten Raum. Das Zimmer war nicht sehr groß. Es war kalt und feucht. Zu ihrer rechten stand ein großer Scheinwerfer. "Tom", erklang Billys Stimme. Kraftlos, aber wach. Beide drehten sich ruckartig in die Richtung, aus der der Ruf kam. Was Tom sah, ließ ihn erschaudern, doch für solche Gefühle war nun keine Zeit. Er mußte professionell handeln, auch wenn es um seinen Bruder ging. Sogleich sprangen sie zu Billy rüber. Sie legten die Taschen ab und zogen ihre Jacken aus. Chris schlüpfte rasch in seine Handschuhe. Tom verzichtete auf die Handschuhe. Es war das gleiche Blut. "Hey, Handschuhe, Tom!", erinnerte Chris ihn. Tom stockte kurz, sagte dann: "Keine Zeit!"

Tom und BillyWhere stories live. Discover now