Kapitel 1

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Vier Stunden zuvor

Gelangweilt lehnte ich am Verkaufstresen und beobachtete die letzten Besucher, die noch unbedingt vor Ladenschluss jedes einzelne Regal durchwühlen mussten. Dabei wussten sie genauso wenig, was sie überhaupt suchten, wie ich. Und ich war mir sicher, dass sie auch nichts kaufen wollten. Sie waren nur hier, um mich davon abzuhalten, mit meinem Handy zu spielen. Wenn dieses verloren wirkende, ältere Ehepaar nicht da wäre, hätte ich heute bestimmt früher Schluss gemacht als sonst.

Mein Magen knurrte schon seit Stunden. Heute war Mittwoch, was bedeutete, dass ich bis sechs Uhr Schicht hatte. Alleine. Die Langeweile verstärkte meinen Hunger nur noch zusätzlich.

Ich warf den beiden einen kurzen Blick zu, die gerade über unser Glühbirnensortiment zu philosophieren schien, und zückte dann das Handy aus meiner Hosentasche.

Da war eine neue Nachricht von meiner Mom.

»Tara, Schatz. Heute gibt es dein Lieblingsessen. Arbeite nicht zu lange. Kuss, Mom.«

Kopfschüttelnd steckte ich mein Handy zurück in die Tasche. Meine Mom war die Einzige, die mir Nachrichten schickte. Und vermutlich wusste sie das auch, ansonsten würde sie es nicht andauernd tun. Ich war nicht besonders gut darin, Freunde zu finden, und das schien meine Eltern sehr zu beunruhigen. Ständig fragten sie mich nach meinen Freunden aus der Highschool, mit denen ich seit meinem Abschluss vor ein paar Monaten keinen Kontakt mehr hatte. Eigentlich waren das auch keine richtigen Freunde gewesen. Wir hatten uns in den Klassenräumen und im Gang gesehen, das war aber auch schon alles. In der Regel hielt ich mich lieber von Menschen fern, die ich nicht kannte. Denn ich wollte nicht, dass jemand von ihnen mein Geheimnis erfuhr ...

»Auf Wiedersehen!« Die alte Dame winkte mir zu, als sie gemeinsam mit ihrem Mann den Elektroladen verließ. Wie ich erwartet hatte, hatten sie nichts gekauft. Trotzdem zwang ich mich zu meinem besten falschen Lächeln.

»Auf Wiedersehen und einen schönen Abend!« Kaum waren die beiden verschwunden, fielen meine Mundwinkel schneller als die Temperaturen, sobald es finster wurde. Es war Anfang November, die eisige Herbstluft füllte den Laden. Natürlich hatten die beiden die Tür nicht hinter sich geschlossen.

Wütend stapfte ich zum Eingang und zog die Tür zu. Manchmal hasste ich meinen Job. Sehr sogar. Ich musste mich mit Leuten herumschlagen, die keine Ahnung hatten, was sie überhaupt wollten. Aber ich durfte nicht zu streng mit ihnen sein, denn ich war auch einer dieser Menschen.

Während der Highschool war ich der festen Überzeugung gewesen, nicht aufs College gehen zu wollen. Ich hatte genug gehabt vom Lernen und den Lehrern und meinen Mitschülern. Ein Job und Geld, das war es gewesen, was mich interessiert hatte. Doch mittlerweile war ich mir da nicht mehr so sicher.

Das war eine kleine Stadt, in der ich lebte. Jeder kannte hier jeden – wenn auch nur vom Sehen. Aber manchmal, da hatte ich das Gefühl, die Leute würden mich besser kennen, als mir lieb war. Als wüssten sie genau, dass ich unglücklich war. Und das wollte ich nicht.

Ich wollte weg von hier. Weg von diesem Ort, wo ein Geheimnis so schnell die Runde machte, wie sonst nirgendwo. Aber ich hatte Angst. Und Angst war mein Feind. Außerdem konnte ich meine Eltern nicht einfach so hinter mir lassen. So traurig es auch klang, sie waren die einzigen Freunde, die ich hatte. Ohne sie wäre ich völlig auf mich allein gestellt in einer Welt, die mein wahres Ich niemals akzeptieren würde.

Da blieb ich lieber hier, arbeitete von früh bis spät und gab vor, glücklich zu sein. Vielleicht würde ich es dann auch irgendwann wirklich werden.

Ich hörte die leisen Glocken vom Kirchturm nicht weit von hier. Mein Blick wanderte zur Uhr, die über der Tür hing. Es war sechs Uhr. Endlich!

Nachdem ich die Gänge noch einmal auf versteckte Besucher durchsucht hatte, griff ich nach meiner Tasche, um mich endlich auf den Weg zu machen. Eine halbe Stunde Autofahrt trennte mich noch vom langersehnten Abendessen. Danach würde ich noch ein kurzes Bad nehmen und es mir mit einer Tasse Tee vor dem Fernseher gemütlich machen. Das hatte ich mir verdient.

Ich schloss die Tür ab und betrachtete mein Spiegelbild in der gläsernen Tür. Allerdings war es so dunkel, dass ich bis auf die hellen Haare kaum etwas erkennen konnte. Ich war mir nie ganz sicher, von wem ich mein Aussehen geerbt hatte. Meine Eltern hatten beide helles Haar. Und auch grünlich-graue Augen. Wir drei sahen uns so ähnlich, dass es schon fast unheimlich war. Unsere Familienfotos wirkten immer, als hätte jemand auf kopieren und einfügen geklickt.

Aus Gewohnheit sah ich mich in der leeren Gasse um. In manchen der Läden brannte noch Licht. Diese armen Teufel hatten noch eine Stunde vor sich. Da konnte ich mich schon fast glücklich schätzen, schon jetzt nach Hause zu fahren.

Ich schlang die Arme fester um meinen Körper, da ich zu frieren begann. Zum Glück wartete mein Auto nicht weit entfernt in einer Seitengasse auf mich. Zielstrebig marschierte ich darauf zu – ich konnte es schon aus der Ferne erkennen. Doch mit einem Mal verlangsamte sich mein Tempo. Ich hatte das seltsame Gefühl, beobachtete zu werden. Ich wusste nicht, woran es lag, aber ich spürte eine plötzliche Unruhe in mir. Besser, ich beeilte mich.

Doch ich hatte kaum einen Schritt hinter mich gebracht, als mich plötzlich jemand unsanft von hinten packte. Eine Hand legte sich auf meinen Mund und zerrte mich trotz heftiger Gegenwehr in die entgegengesetzte Richtung davon.

Ich wollte schreien und um Hilfe rufen, bekam aber keinen Ton hervor. Da waren mehrere Hände, die nach mir griffen und mich festhielten. Und sie alle trugen dicke, schwarze Lederhandschuhe.

Meine Gedanken rasten, während ich versuchte, mich zu befreien. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir passierte. Das Einzige, was mein Körper mir mitteilte, war: Flucht. Ich musste fliehen. Und zwar schnell. Aber ich schaffte nicht.

Es war so schrecklich still in der Gasse. Keiner der Leute um mich herum gab auch nur einen Ton von sich. Ich wusste nicht, wie viele es waren, aber es schienen eindeutig zu viele zu sein.

Plötzlich flackerte ein kurzes, rötliches Licht auf. Nur für eine Sekunde. Das war ein Auto! Mein Puls beschleunigte sich noch zusätzlich. Ich zerrte und zog an den Händen, die mich festhielten. Doch es nutzte nichts. Eine Sekunde später fand ich mich auch schon auf der Ladefläche eines LKWs wieder. Ich war zu Boden gefallen, vor mir standen drei Männer. Es war so dunkel, dass ich ihre Gesichter nicht ausmachen konnte.

Einer von ihnen kniete sich neben mich auf den Boden und ich wollte zurückweichen. Doch er war schneller. Er packte ich am Bein und zog mich unsanft zurück. Ich spürte, dass er meine Taschen absuchte, bis er mein Handy gefunden hatte.

»Hey!«, schrie ich ihn an, als er mir damit den Rücken zuwandte und gemeinsam mit den anderen von der Ladefläche sprang. Ich rappelte mich auf, doch meine Knie fühlten sich an wie Gummi. »Das gehört mir!«

Ich wollte ihnen hinterherlaufen, aber da war es bereits zu spät. Die Türen schlossen sich und mit einem Mal stand ich im Dunkeln.

Zoo der MonsterWhere stories live. Discover now