Prolog

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Prolog


Panik riss mich aus dem Schlaf.

Atmen. Ich kann nicht atmen.

Ich kickte wild um mich und versuchte verzweifelt Luft in die Lunge zu pressen. Ich griff mir an die Kehle, keuchte.

Ruhig. Du musst ruhig werden.

Mein Blick raste durchs Schlafzimmer, auf der Suche nach einem Punkt, den ich fixieren konnte. Ich bemühte mich um Entspannung, doch mein Körper bebte vor Anstrengung, meine Muskeln krampften, zischende Laute verließen meinen Mund. Dieser Zustand war mir wohlbekannt, aber die Intensität riss mich dieses Mal vollkommen mit.

Kaum dass mein Herzschlag sich beruhigt hatte und ich meine zu Fäusten geballten Hände wieder öffnen konnte, stand ich auf. Eine uralte Mischung pulsierte in meinen Adern, die mich trotz der Enge in der Brust belebte.

Energie und Magie. Meine Lebenselixiere.

Mein Körper war nun nicht mehr der eines gewöhnlichen Mannes, er war von einer anderen Beschaffenheit. So alt wie die Sterne, so weit wie das Universum und so mächtig, wie die Geburt einer Galaxie. Meine Instinkte übertrumpften jedes Raubtier, meine Bedürfnisse nach Schlaf, Nahrung und Ruhe waren wie weggeblasen. Ich hob eine Hand, aus deren Innenfläche goldenes Licht strömte. Für einen kurzen Augenblick erlaubte ich es mir, still zu stehen und die Dinge einfach geschehen zu lassen. Ich nahm alles wahr.

Den Fernseher auf der anderen Straßenseite, die einzelne Maserung der Holzdielen, auf denen ich barfuß stand, die Gerüche der Stadt, das Flügelschlagen der Vögel, Kindergeschrei, Liebesbekundungen, Hasstiraden, Lachen, Weinen. Das alles gehörte zum Leben, das machte die Welt aus. Und ich würde sterben, um zu schützen, was mir anvertraut wurde. Der Augenblick des Erwachens, wenn die Magie in mir wirbelte und meine Sinne geschärft waren, fesselte mich jedes Mal. Es fühlte sich an, als hätte ich die letzten Wochen in dichtem Nebel verbracht, der sich nun vollkommen lichtete.

Ich gab mir einen Ruck, schlüpfte in eine Jogginghose, zog einen Kapuzenpullover über mein T-Shirt, putzte mir hastig die Zähne und verließ die Wohnung. Das Gefühl, nicht atmen zu können, begleitete mich und würde es solange tun, bis ich sie oder ihn gefunden hatte.

Die Person, deren Leben von nun an über meinem stehen würde. Nachdem ich aus dem Haus getreten war, schrie alles in mir, nach links zu gehen. Ich folgte meinen Instinkten. Aus dem tristen grauschwarz der Nacht war ein schieferblau geworden und die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich über den Horizont. Wie viele Sonnenaufgänge hatte ich bereits gesehen? Und jedes Mal war es einzigartig. Weil kein Tag auf der Erde dem anderen glich, weil man nie wissen konnte, was das Schicksal bereithielt.

„Hey, Wichser, pass auf."

Ein junger Bursche torkelte über den Bürgersteig und rempelte mich an. Ich könnte ihm ohne Anstrengung jeden einzelnen Knochen brechen, doch stattdessen gab ich ihm einen Schubs, durch den er fluchend auf dem Boden landete. Dort hätte er sich auch ohne mein Zutun in den nächsten Minuten wiedergefunden, denn aus seinen Poren drang fahler Alkoholgeruch.

Während ich weiter durch Berlin lief, ging die Sonne vollends auf. Gleißendes Oktoberlicht färbte die Stadt golden und die Menschenmassen der Straßen veränderten sich von Clubgängern zu Touristen. Es war Sonntag, aber das spürte man im Bezirk Mitte kaum. Ich stieg in eine Tram, fegte eine leere Dose vom Sitz und setzte mich.

Mein letzter Auftrag war noch nicht lange her und ich hätte gerne mehr Freizeit gehabt. Wobei mein Körper keine Erholung benötigte, viel mehr mein Geist, denn mein Schützling hatte sich in jedes Partygetummel geworfen, das er finden konnte. Von Anfang an hatte ich mich gefragt, was seine Bestimmung war. Die ausufernden Clubbesuche hatten mich unglaublich gelangweilt. Sich zwischen schwitzenden Menschen und dröhnenden Bässen zu verlieren war reine Zeitverschwendung. Diese Menschen sollten herauszufinden, wer sie waren, bevor sie nach Möglichkeiten suchten, sich aufzulösen.

Ehrlich - wer machte das heute noch? Sich mit etwas richtig auseinandersetzen? Vornehmlich sich selbst? Diese Generation jedenfalls nicht. Aber das sagte man wohl seit Anbeginn der Zeit über jede Generation.

Der Auftrag hatte positiv geendet. Das Gefühl zu beschützen, war auf einmal weg gewesen und wie so oft wusste ich nicht, was geschehen war.

Ich keuchte.

Das Gefühl, nicht atmen zu können, wurde plötzlich schlimmer, als wäre der Sauerstoff aus meinem Körper und der Atmosphäre verschwunden. Ich stürzte an der nächsten Haltestelle aus der Tram und musste mich gegen eine Hauswand lehnen. Der Putz bröckelte und rieselte zu Boden. Es würde noch schlimmer werden und dann würde das Gefühl plötzlich verschwinden. Ich würde atmen können, aber ich wäre nicht mehr frei.

Ich gab meine Freiheit für das Leben eines anderen.

Jedes Mal aufs Neue.

Ich zwang mich, weiterzugehen, immer weiter, schaffte kaum noch die Steigung einer Brücke, die sanft über der Spree lag. Ich zog mich an der steinernen Brüstung vorwärts, wobei ich kleinere Brocken herausbrach.

Mir fehlte die Stärke, um meine Kraft zu kontrollieren.

Passanten betrachtete mich argwöhnisch, ich schob die Kapuze meines Pullis tief ins Gesicht und wankte weiter. In diesem Augenblick war ich so verwundbar, wie ein Mensch. Nach einem weiteren Schritt fiel ich halb bewusstlos auf die Knie. Schmerz spürte ich nicht, ich wurde beherrscht vom Gefühl, zu sterben. Meine verkrampften Arme schoben sich automatisch vor meinen Körper, als wollte ich mich selbst umarmen. Mein Herzschlag wurde immer langsamer und langsamer. Ein Rauschen ertönte in meinen Ohren.

Ich versuchte, nicht dagegen anzukämpfen, meine Augen schlossen sich. Und dann blieb mein Herz stehen.

Eine Sekunde.

Zwei.

Schwärze umhüllte mich.

Mein Herz schlug wieder.

Ich bäumte mich auf und holte tief Luft, ließ den Sauerstoff in meiner Lunge, ehe ich ausatmete. Es war vorbei. Bevor ich mich umsehen konnte, legte sich eine Hand federleicht auf meine Schulter. Tausend und abertausend Stromstöße schossen durch mich hindurch, ließen meine Muskeln unkontrolliert zucken.

„Alles okay?"

Ich hörte ihre leise Stimme mit diesem Hauch Unsicherheit darin, wie durch einen Dunst. Nicht ich hatte sie gefunden, sondern sie mich. Ihre Berührung elektrisierte mich und ich war beinahe unfähig, mich zu bewegen.

Und dann dämmerte es mir.

Die Wucht, mit der die Magie zurückgekommen war, tausend Mal stärker als sonst, die unbändige Kraft, die durch mich strömte. Das Gefühl, das ihre Stimme in mir auslöste, ihre Berührung, die mich verschlang.

Ich wusste es.

Dieses Mal war alles anders.

Es war bedeutender und mächtiger als jemals zuvor.

Stardust in Your VeinsDonde viven las historias. Descúbrelo ahora