Freier Fall

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Es musste hier oben ziemlich kalt sein, wenn man für Kälte empfänglich war.
Loki kämpfte sich mühevoll durch die Schneedünen, die von dem andauernden, heftigen Windzug ständig aufgeweht wurden, wie ihr sandiges Äquivalent in der Wüste. Immer wenn Loki glaubte, endlich eine Schneise gefunden zu haben, versank er den nächsten Schritt metertief im Schnee. Sämtliche Pfade in dieser Region schienen eine einzige Illusion zu sein, eine Lüge, denn der schneidend kalte Wind formte die Umgebung ständig neu, erschuf Trittfallen und ließ alles unter einer weißen Decke in Vergessenheit geraten, was nicht schnell genug vorankam.
Normalerweise wäre es kein Problem für ihn gewesen, leichtfüßig wie eine Katze über den Schnee zu schleichen; ein bisschen Magie hier, ein bisschen Magie da und schon konnte man die Leistungskraft des eigenen Körpers steigern, oder kurz gesagt, über Wasser laufen. Doch er fühlte sich verdammt müde und ausgelaugt. 

Natürlich hatte er viel über Portalreisen gelesen und gelernt, aber selbst die verbotenen Tagebücher von Amora, einer der größten, asischen Magierinnen, hatte ihn nicht auf diese innere Leere vorbereitet. Andererseits unterschied er sich auch gewaltig von besagter Hexe. Amora hatte schon in ihrer Lehre zur Seidr Dimensionsportale nach überallhin öffnen können, ohne mit der Wimper zu zucken. Ein kleiner Ausflug in die schönen Berge Alfheims und danach noch ein Abstecher nach Vanaheim? Für Amora kein Problem und es wunderte Loki nicht, dass sie Asgard schließlich verlassen hatte. Was hätte sie dort auch noch groß lernen sollen?


Aber all das Sinnieren half nicht. Er hatte einen Großteil seiner Kraft aufgewendet, um das Weltentor zu öffnen und es dann auch noch offen zu halten, hatte ihm förmlich alles abverlangt. Jeder Schritt durch den Schnee war mühsam und Loki hatte die leise Ahnung, dass es sich in etwa so anfühlen musste, sterblich zu sein. War er vielleicht auch sterblich? Und was bei Hel war er, wenn er kein Ase war?
Ein Elf bist du sicherlich nicht.
Nein. Weder Elf noch Zwerg noch Jotun. Er war zu klein um ein Jotun zu sein - mal abgesehen davon, war er nicht blau genug - und zu groß, um zu den Zwergen zu passen - dafür war er außerdem nicht hässlich genug, wenn er das behaupten durfte -; wo  war er damals also hergekommen? Wieso war er über den Bifröst gekommen? Und wieso hatte niemand, absolut niemand, eine Antwort darauf?

Loki seufzte, als er erneut im Schnee einsackte und kaum mehr herauskam.
„Scheiße ..." Er stützte seine Arme flach auf die Schneedecke, um sich langsam herauszuziehen. Wenn es ihm schon so erging, wie musste es dann Thor und Freya in ihren Rüstungen gehen? Ein Bild von Thor tauchte vor seinem inneren Auge auf, wie dieser, mit seinem bloßen Gewicht, einfach seine eigene Schneise durch die weißen Massen schlug; dieser Gedanke entlockte Loki ein amüsiertes Schmunzeln, dann zog er sich zum gefühlt tausendsten Male aus dem Loch und ließ sich auf einen nahen, vereisten Felsen sinken, um zu verschnaufen.
Ein Blick in die Richtung, aus der er gekommen war, offenbarte, dass die kleine Schneise, die er geschlagen hatte, bereits wieder zugeschneit war. Bereit, andere Abenteurer oder Verschollene in die Irre zu führen und für immer unter sich zu begraben. Wie sollte er je eine Spur von Balder finden, wenn er nicht einmal die Spuren sehen konnte, die er selbst vor fünf Minuten hinterlassen hatte?
Theoretisch konnte Balder bereits überall sein – vorausgesetzt, die Portalreise hatte ihn nicht aus unerklärlichen Gründen in seine Bestandteile zerlegt und die Luft, die sie atmeten, war voll mit ... Balderpartikeln.
Bist du jetzt total bescheuert?
Loki seufzte und rieb sich grinsend über die Augen. Ja, wahrscheinlich ging seine Fantasie mit ihm durch und es gab irgendeine andere logische Erklärung für seinen Verbleib. Balder hatte so viel durchgemacht und immer überlebt, er würde ...

Loki stockte mit einem Mal. Was hatte Frigga damals während der Lektionen zu ihm gesagt? Plötzlich erinnerte er sich glasklar an ihre letzten Worte an dem Tag, an dem er das erste Mal ohne ihr Wissen auf eigene Faust Jotunheim besucht hatte: "... es kommt einem Wunder gleich, dass Balder damals heil aus Jotunheim zurückgekommen ist, mit nichts als einer Unterkühlung. Ich dachte, ich hätte ihn verloren und ich will keinen Gedanken daran verschwenden, dich auch zu verlieren."

Mit einem Mal fuhr Loki von dem Stein auf. Damals war Balder bei einem diplomatischen Besuch in Jotunheim verloren gegangen. Er hatte berichtet, sich zurückgekämpft zu haben, aber die Kälte, der Schnee, das alles klang ... 

„... Loki!"

Eine entfernte, schwache Stimme drang mit dem Wind zu ihm herüber und sofort fuhr Loki herum. Vorsichtig sah er sich um, konnte aber niemanden entdecken. Halluzinierte er jetzt auch noch?

„Loki ... hier..."

Erneut fuhr Loki herum, diesmal in die Richtung, von der er instinktiv zu spüren glaubte, dass die Rufe, Laute, oder was auch immer das für Hirngespinste waren, zu ihm herüber drangen.

„Balder?", rief Loki ins Blaue hinein und tatsächlich bekam er ein langgezogenes Stöhnen zur Antwort. „Wo auch immer du bist, beweg dich nicht, ich bin gleich da!" Loki legte seinen Rucksack ab und watete durch den Tiefschnee, ließ sich weder von Trittlöchern noch von dem Wind aufhalten, der seinen Mantel aufblies, wie einen Fallschirm und ihn zusätzlich bremste. Immer weiter lief er voran, folgte der Stimme, bis er plötzlich innehalten musste; ein tiefer Abgrund tat sich unmittelbar vor ihm auf. Und nur wenige Meter unter ihm, auf einem kleinen Vorsprung, kauerte Thors Bruder. Übersät von Eis, die Haut vom Wind gerötet, die Arme fest um seinen Körper geschlungen. Bei allen alten Göttern, das war verdammt tief. Wie hatte er nur dort unten landen können?
Als er ihn bemerkte, hob Balder den Kopf. „Loki! Den Göttern sei Dank, ich dachte schon ..."
„Geht es dir gut?", wollte Loki wissen.
„Ja, mir ist nur ... ziemlich kalt. Mir fehlt nichts."
„Wie ist das passiert?" Loki sah nach unten, machte aber sonst keine Anstalten, sich zu bewegen und als Balder seinen Blick erwiderte, verständnislos, fragend, wusste Loki nicht, was er denken sollte.
„Ich weiß nicht, ich bin hier gelandet und ...", Balder kniff die Augen zusammen, versuchte sich zu erinnern. "Hilfst du mir hoch? Ich erfriere gleich."

Erst jetzt bemerkte Loki, dass Balder keinen Mantel trug und auch wenn all das verdammt seltsam war: Er konnte Thors Bruder unmöglich dort unten lassen. „Warte, geh nicht weg. Ich hole das Seil."
„Wirklich sehr lustig", klang es noch aus der Spalte, doch Loki war bereits auf halbem Weg zu seinem Rucksack.

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Wenig später bekam Loki Balders Hand zu fassen und war überrascht, dass sie nicht so kalt war, wie er erwartet hatte; wenigstens hielt das Seil, das er um einen spitzen Felsen gebunden hatte, um Balder nach oben zu ziehen. Dieser rollte nach ein paar Minuten hin und her endlich über die Kante des Abgrunds und schnaufte dankbar gen Himmel. „Danke ...", murmelte der jüngere Prinz leise, ehe er nach der Weinflasche griff, die Loki ihm reichte.
„Es ist fast ein Wunder, dass du das überlebt hast", seufzte Loki schließlich, darum bemüht, den gleichen Tonfall anzuschlagen, wie Frigga damals. Und tatsächlich zögerte Balder - nur Bruchteile von Sekunden - ehe er scheinbar unberührt trank. Und trank und trank, fast erinnerte er Loki an sich selbst, wenn er versuchte sich Mut anzutrinken. 
Schließlich nahm Loki ihm die Flasche aus der Hand. „Das reicht, du trinkst ja alles leer! Ich brauche die Flasche noch. Wir treffen uns in einer halben Stunde am Bagila-Kamm."

"Wo?" Verwirrt sah Balder sich um.

Schnaubend verschloss Loki die Flasche. „Der Ort sollte dir durchaus geläufig sein, so viel, wie du über Jotunheim zu wissen scheinst."

Balder sah verständnislos zu ihm herüber. „Was willst du damit sagen, Loki?"

Loki fixierte Balder, wie ein Panther, der seine Beute anvisierte. „Ich will damit sagen, dass du nicht mit offenen Karten spielst. Ich glaube nicht, dass du damals so einfach aus Jotunheim fliehen konntest, wie du behauptet hast; niemand kann das. Ebenso wenig glaube ich, dass mein Portal dich hier abgesetzt hat, das ist schlichtweg unmöglich. Einfach unmöglich!"
„Denkst du etwa, ich bin der Spion?", wollte Balder fassungslos wissen und starrte Loki an, als hätte ihm ein Geist aus Helheim soeben erzählt, dass er eine tote Schwester hatte, die ihn besuchen wollte.
Loki stand seelenruhig auf und klopfte sich den Schnee vom Mantel. „Nein, das glaube ich nicht. Du liebst deine Familie, du siehst zu Thor auf. Du willst Asgard wirklich beschützen, das weiß ich. Die Frage ist nur ... welchen zwielichtigen Deal du sonst für deine vermeintliche Flucht eingegangen bist. Und was du weißt, was ich nicht weiß." Bohrend sah er Balder an. „Ich bin zugegeben noch nicht dahinter gekommen, aber ich werde es. Ich bringe dich zurück zu den anderen und dann wirst du reden. Wenn du noch ein letztes bisschen Ehre besitzt ..."
„Loki, das ist doch lächerlich ...!"

Eine Weile war es totenstill und nur der Wind pfiff über die Ebenen. Loki hatte hoch gepokert mit seiner Anschuldigung, das wusste er, aber es war die einzige Chance, womöglich etwas herauszufinden. Doch als er sich abwandte, um das Seil einzuholen, bereute er seine harten Worte bereits. Wenn sie erst einmal wieder bei Thor waren, würde das alles sich sicher aufklären und er würde sich entschuldigen, immerhin hatte Balder ihm schon so oft geholfen und war immer für ihn da gewesen.

Balder erhob sich aus dem Schnee. „Ich besitze eine Menge Ehre, Loki, auch wenn du das nicht verstehst."
„Ach ist das so?" Loki schmunzelte, doch als er sich umdrehte, stand Balder genau vor ihm. So dicht wie damals auf der Terrasse. So dicht, dass Lokis Herz schneller zu klopfen begann.

Ein undeutbarer Schleier war über die braunen Augen gezogen, während Balder eine Hand ausstreckte, um ihn am Nacken zu packen und zu sich zu ziehen.ein verdammter Kuss. Seine Lippen schmeckten nach Wein und unweigerlich wollte Loki sich losreißen, doch ihm fehlte die Kraft, gegen den festen Griff in seinem Nacken vorzugehen.
„Bist du von den paar Schlucken betrunken?", zischte er Balder ungehalten entgegen. „Wir haben etwas zu erledigen, schon vergessen? Wir müssen sofort los, anstatt am Rande einer verdammten Klippe herumzustehen, wie zwei sinnlose Schneemänner! Was ist, geht es dir nicht gut?"
„Es ging mir selten so gut."

Loki stockte abrupt. Er sah Balder an, fragend, widerstandslos, suchte in den braunen Augen von Balder nach etwas, das Sinn machte. Er hatte so oft in diese Iriden gesehen, ohne wirklich etwas zu sehen, das wurde ihm gerade schmerzlich bewusst. Keine Ahnung, was in Balder vorging, aber es war irgendwie verdammt gruselig.

„Erinnerst du dich, als ich dir sagte, ich habe mein Leben der Krone Asgards verschrieben?" Balder blinzelte nicht einmal beim Sprechen.
Loki zögerte. „Ich erinnere mich. Genau wie ich mein Leben dem König und der Krone verschrieben habe, Balder."
„... und wenn dies mein Leben kosten sollte, dann möge es so sein", zitierte der jüngere Prinz den Schwur.

Loki war selten so verwirrt, wie in diesem Moment. Fragend fuhr sein Blick über Balders Gesicht, doch es war so leer wie die königliche Bibliothek bei Nacht. „... und wenn dies mein Leben kosten sollte, dann möge es so sein", antwortete Loki schließlich leise und heiser, seine Stimme kam kaum gegen den Wind an.

„Der Zeitpunkt ist gekommen, dein Versprechen einzuhalten, Loki. Es tut mir leid."

Loki fühlte den Stoß gegen seine Brust, noch ehe er ihn bewusst wahrnahm. Fühlte, wie die Fersen seiner Stiefel sich über den Abgrund schoben. Der Wind heulte ihm in den Ohren, doch Loki spürte nichts.

Nichts außer freiem Fall.

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⏰ Last updated: Dec 13, 2019 ⏰

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Herz über Kopf #2Where stories live. Discover now