Kapitel 22

87 12 12
                                    

~ Dashiell ~

„Auf was wartest du? Geh ihr nach!" Die Stimme hinter mir erschreckte mich innerlich zu Tode, doch es gelang mir, keine äußerliche Reaktion zu zeigen. Es war Amelia. Natürlich war sie es. Ich hätte damit rechnen müssen, dass sie ebenfalls anwesend war und mich im Auge hatte.

Plötzlich tauchte sie neben mir auf. Hinter ihr stand ihr Mann, Calder, soweit ich wusste. „Was tust du denn? Sie hält dich für den Spion, also geh ihr nach!"

Amelia streckte die Hand aus und wies damit in Richtung der großen Flügeltür des Saales, wo Elyanor gerade um die Ecke verschwand. Niemandem sonst schien ihre Flucht aufgefallen zu sein.                                                                                                                                                                                                                                                                                        
Ich sah zurück zu Amelia, die mich mit einem Blick musterte, als würde sie mich umbringen, wenn ich nicht innerhalb der nächsten zehn Sekunden in Bewegung setzte, um mit Elyanor zu sprechen.

Seufzend bahnte ich mir ebenfalls einen Weg durch die Menge und versuchte, sie aufzuhalten. Sie dachte ernsthaft, ich sei  der Spion, den sie so verzweifelt suchte?

Ungläubig schüttelte ich den Kopf, während ich mich draußen im Flur umsah. Keine Spur von ihr. Ich beschloss, nach rechts zu gehen, da sich links lediglich der Flügel mit den Gemächern der Königsfamilie befand.

Elyanor war sicher hinaus auf die Terrasse getreten, um ein wenig frische Luft zu bekommen. Ich folgte dem Flur und ignorierte dabei die Zimmer, die in unregelmäßigen Abständen rechts und links abgingen, bis ich in ein weiteres Treppenhaus kam.

Gegenüber der Treppe in den ersten Stock lag eine große Glastür, die von einem Wachmann bewacht wurde. Er sah teilnahmslos geradeaus, als wäre ich gar nicht da. Langsam trat ich näher heran und sah hindurch in einen spärlich ausgeleuchteten, parkähnlichen Garten.

Der Punkt einer Fackel bewegte sich in raschem Tempo über den Rasen. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte, dass es tatsächlich Elyanor war. Sie blieb stehen und der Punkt der Fackel senkte sich.

Mit hängenden Schultern sah ich über meine Schulter, den leeren Flur hinunter, aus dessen Richtung Musik und Gelächter drängten. Dann warf ich einen Blick durch das Fenster in den dunklen Garten, der nur durch Elyanors Fackel in der Ferne erleuchtet wurde.

Ich kniff meine Augen zusammen. Ja, ich konnte tatsächlich ihre Silhouette erkennen. Entschlossen öffnete ich die Glastür und trat hinaus in die dunkle Nacht. Es war tatsächlich ein wenig kühl und ich wunderte mich, dass sie nicht wieder hineingegangen war.

Vorsichtig öffnete ich die Glastür und überquerte dann die Rasenfläche. Als ich etwa die Hälfte hinter mir hatte, sah ich, dass Elyanor auf dem Steg eines Sees saß und ihre Fackel in einen Spalt zwischen den Brettern gesteckt hatte, sodass sie sie nicht halten musste.

Ich blieb einige Meter hinter ihr stehen. Sie hatte mir den Rücken zugewandt und die Beine an den Körper gezogen. Ihren Kopf hatte sie auf ihre Knie gestützt und sah gedankenverloren auf das Wasser hinaus.

„Elyanor?" Ich betrat den Steg, an dessen Ende ein kleines Boot auf den sanften Wellen schaukelte.

„Was machst du denn hier draußen? Es ist kalt." Sie drehte ihren Kopf, um zu sehen, wer ihre Einsamkeit störte und sprang dann hastig auf.

„Du!" Elyanors Mine war gefurcht vor Zorn. „Was tust du überhaupt hier? Versuchst du etwa, mir ein Regierungsgeheimnis zu entlocken?"

Ich hob abwehrend die Hände, als wollte ich mich ergeben. „Das versuche ich nicht und ich habe es auch noch nie versucht. Lass uns wieder hineingehen." Mit Sorge bemerkte ich, dass sie nicht einmal ihr dünnes Tuch dabeihatte, um ihre Schultern zu bedecken.

Selection - ElyanorWhere stories live. Discover now