Kapitel 61

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05.10.2021, Monaco

Alle anderen schlafen noch als ich am nächsten Morgen aufstehe. Die Sonne ist schon am aufgehen, als ich meine Augen öffne und sie scheint durch die leicht geöffneten Jalousien. Lando runzelt die Stirn, als ich mich aus dem Bett schleiche, aber er vergräbt sich in seinem Kissen und zieht die Decke bis zum Kinn hoch.

Aus unserem Schrank schnappe ich mir eine Leggings und einen dicken längeren grauen Pulli, bevor ich ins Badezimmer gehe. Dort richte ich meine Haare, putze meine Zähne, schminke mich ein bisschen und gehe dann in die Küche um mir einen Kaffee zu machen. Muppet kommt auf seinen kleinen Pfoten zu mir getapst und stupst gegen mein Bein.

„Na du kleine Fellnase", sage ich leise und kraule ihn. Wir haben vor, dass er im Wohnzimmer schlafen wird und haben ihn gestern Abend noch an sein Körbchen gewöhnt ein bisschen. Er hat die Nacht sogar darin geschlafen und es hat wirklich geklappt. Die Schlafzimmertür war ausnahmsweise nur angelehnt, falls er unruhig geworden wäre.

Meinen Kaffee trinke ich, während Muppet von seinem Wasser trinkt und von seinem Futter isst. Meine leere Kaffeetasse stelle ich in die Spülmaschine, bevor ich Muppet hoch nehme und mit ihm ins Schlafzimmer gehe. Dort setze ich ihn auf meine Betthälfte, wo er sich glücklich zusammen rollt. Mit einem Lächeln küsse ich Lando auf die Stirn, bevor ich mich zum gehen wende.

Die Schlafzimmertür lehne ich nur an, als ich wieder raus gehe. In der Garderobe schlüpfe ich in Sneaker und nehme meine Tasche, wo ich noch mein Handy rein packe und gehe dann nach draußen. Die Herbstluft ist heute kühler wie normalerweise. Wie so oft auf dem Weg zum Friedhof hab ich meine Kopfhörer drin und lasse meine Lieblingsplaylist laufen. Passender Weise läuft ‚Hotel California', als ich Blumen kaufe. Einer von Jules Lieblingssongs. Jahre lang konnte ich dieses Lied nicht mehr hören, da ich immer an die Beerdigung denken musste. Es wurde dort eine verlangsamte Version gespielt und auch jetzt werde ich noch emotional dabei.

Mit den Blumen in der Hand, weißen Rosen, setze ich meinen Weg fort. Heute vor sieben Jahren hatte Jules seinen Unfall. Und wie jedes Jahr an diesem Tag gehe ich zum Grab um Blumen niederzulegen und mit meinem Bruder zu reden. Am Friedhof angekommen, schiebe ich das Tor auf und gehe den altbekannten Weg zu seinem Grab. Dort angekommen tausche ich die Blumen aus und setze mich dann wie immer auf den Boden, die Knie an die Brust gezogen.

„Hey Jules", sage ich leise. „Wo fang ich an? Oh ich weiß es! Ich hab jetzt einen Hund! Naja, Lando und ich haben einen Hund. Er hat ihn mir gestern zum Geburtstag geschenkt, einen Golden Retriever Welpen, namens Muppet. Süß oder? Carlos hat ihm geholfen den Namen auszusuchen. Ich hab dir ja schon von ihrer Faszination für die Muppets erzählt. Das Zusammenleben mit Lando ist super, wirklich. Ich liebe ihn so sehr, das kannst du dir nicht vorstellen. Ja, ich bin noch echt jung, aber ich glaube ich hab die Liebe meines Lebens gefunden."

Ich sehe in Richtung der Trauerweide und muss lächeln, als ich eine ältere Dame sehe, die zu einem Grab geht. Diese Frau sehe ich regelmäßig hier am Friedhof.

„Max und Pietra sind auch gekommen zu meinem Geburtstag gestern und wir wollen einen ganzen Tag in Sao Paulo gemeinsam verbringen und Pietra hat sogar angeboten mir noch Portugiesisch Unterricht zu geben. Lando war nicht so begeistert davon, denn er meinte, dass ich noch mehr Pläne auf anderen Sprachen über ihn machen würde. So ganz unrecht hat er nicht, denn Pietra und ich haben immer noch eine Rechnung mit ihm, Max und Pierre offen", erzähle ich ihm. „Morgen geht es für uns nach Istanbul und wir wollen Muppet mitnehmen, also wünsch uns Glück. Da fällt mir ein, ich sollte mich vielleicht mit Lewis unterhalten wie er das mit Roscoe am Anfang gemacht hat."

Über mir zwitschern die Vögel und die Sonne scheint mir sanft ins Gesicht. Es ist das erste Mal seit einer Ewigkeit, dass ich nicht von völliger Traurigkeit ergriffen werde, wenn ich hier bin.

„Pierre und ich haben jetzt endgültig beschlossen, dass wir nicht mehr zusammen ziehen werden. Das ist wirklich komisch irgendwie, aber es macht halt auch Sinn, weißt du? Ich wäre eh mit Lando zusammen gezogen und er mit Kika. Außerdem verbringe ich so viel Zeit mit Lando, dass eine eigene Wohnung wirklich Sinn macht", erzähle ich weiter, bevor mir etwas einfällt. „Weißt du was Pierre, Charles und ich heute noch machen? Wir fahren mit Charles Yacht raus aufs Meer, Richtung Menton. Ich war seit wir deine Asche verstreut haben nicht mehr in der Richtung unterwegs. Es war Pierres Idee und es werden einfach nur wir drei sein. Lando bringt Max und Pietra zum Flughafen und bleibt zuhause."

Ich sitze noch ewig so hier und erzähle ihm alles mögliche, schwelge in Erinnerungen und genieße die Zeit mit meinem Bruder, bis es so spät ist, dass mich meine beiden besten Freunde abholen. Sie warten schon mit Charles Auto auf mich, das Verdeck offen und sie grinsen mich an.

„Hallo", erwidere ich ihr Grinsen und Pierre steigt aus, sodass ich nach hinten einsteigen kann. „Danke fürs abholen."

„Wie war's?", fragt Charles, als er sich in den Verkehr einfädelt und ich mich angeschnallt habe.

„Zur Abwechslung ging es mir wirklich gut. Ich hab mich nicht so traurig und verletzlich gefühlt wie normalerweise. Ich hab nicht einmal geweint", sage ich leise. „Nicht einmal. Keine einzige Träne."

Das ist ein so großer Schritt für mich, denn normalerweise weine ich immer wenn ich hier bin. Besonders an diesem Tag.

Pierre dreht sich zu mir um und nimmt meine Hand in seine. Er lächelt mich an und auch Charles kann ich im Rückspiegel lächeln sehen.

„Das ist großartig, Süße", lächelt Pierre.

„Es war einfach nur schön, dort zu sitzen und ihm von meinem, unserem Leben jetzt zu erzählen. Zum ersten Mal hab ich mich nicht schuldig gefühlt, versteht ihr was ich meine?"

Tatsächlich ist mir in einer der Therapiesitzungen mit Anna bewusst geworden, dass ich mich oft schuldig fühle, weil ich am Leben bin und mein Bruder nicht. Dabei sollte es nicht so sein. Mein Bruder starb an den Folgen eines blöden Unfalls, an dem ich nicht beteiligt war. Ich sollte mein Leben genießen können, ohne mir ständig vorzustellen, was mein Bruder machen würde.

Am Jachthafen angekommen, gehen wir zur Sedici und nachdem wir an Board gegangen sind, legt Charles ab. In der Küche unter Deck mache ich mir einen Kaffee und setze mich damit zu den beiden. Unsere Fahrt dauert nicht lange und als wir angehalten haben, gehen wir drei nach draußen und setzen uns auf die Bank. Die Sonne scheint und glitzert auf dem Wasser. Um uns herum sind keine anderen Boote und es ist einfach still. Nur die Wellen die an die Yacht lecken sind zu hören.

„Wisst ihr noch, als wir vier in Barcelona die ganze Nacht am Strand verbracht haben, am Freitag?", fragt Charles dann.

Gott ja, an das kann ich mich noch so gut erinnern! Es war 2013, in Jules erster Saison. Wir konnten zum Rennen kommen und da unser Hotel direkt am Strand lag, sind wir Abends hin gegangen und haben uns den Sonnenuntergang angesehen. Irgendwie sind wir nie wieder ins Hotel gegangen und sind dann unter dem Sternenhimmel am Strand eingeschlafen.

„Oder als wir die Schule geschwänzt haben und er uns abgeholt hat und wir an unserer Kartstrecke waren?", frage ich.

Damals bin ich noch mit dem Jungs gefahren. Einmal im Sommer hat uns Jules abgeholt und wir haben den ganzen Tag zu viert an der geschlossenen Kartstrecke meines Vaters verbracht. Als unsere Eltern das rausgefunden haben, waren sie stinksauer und wir hatten zwei Wochen Hausarrest. Am schlimmsten war aber, dass selbst Jules und ich in der Zeit nicht miteinander reden konnten. Ich musste die ganze Zeit lernen und er durfte mich nicht stören.

„Erinnerst du dich noch, als wir Angies Halskette gekauft haben?", lacht Pierre.

„Oh Gott, ja", stöhnt Charles und fährt sich mit der Hand durch die Haare, bevor er sich zu mir wendet. „Jules hatte eine ganz bestimmte Vorstellung von der Kette die wir dir zum Geburtstag schenken und ich glaube wir waren zwei Stunden in verschiedenen Schmuckläden unterwegs, bis wir endlich die passende gefunden haben."

„Du hast uns an dem Tag auch noch ständig angerufen, weil dir so langweilig war. Du hast deinen Bruder in den Wahnsinn getrieben." Pierre sieht mich an.

Automatisch fasse ich an meine Halskette, die ich niemals ablege. „So lange habt ihr nach dieser Kette gesucht?"

Die beiden nicken.

You were there for me - Lando Norris FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt