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1. Kapitel

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River's POV:

Nebenan zog gerade eine neue Familie ein.
Ich konnte mich noch bestens an das letzte Mal erinnern, als wir neue Nachbarn bekommen hatten. Ich war damals fünf Jahre alt und ein wirklich süßer kleiner Junge gewesen und ich hatte das alles unglaublich aufregend gefunden. Stundenlang hatte ich erwartungsvoll aus dem Fenster gestarrt, meine Nase an der Scheibe plattgedrückt und gehofft, dass die neuen Nachbarn Kinder in meinem Alter hatten. Ich war selten so enttäuscht, wie in dem Moment, als ich erfahren hatte, dass dem nicht so war.
Heute, elf Jahre später, war es ganz anders. Ich war eher mindergespannt auf die Eindringlinge von nebenan. Immerhin wusste ich noch nicht, was mich erwartete. Hoffentlich keine stundenlang kläffenden Hunde, die uns bereits in den frühen Morgenstunden den Schlaf rauben würden.
Also lag ich, anstatt aus dem Fenster zu glotzen und mich an durchnässten Umzugshelfern und dem strömenden Regen zu ergötzen, auf meinem Bett und blätterte lustlos in der Englischlektüre, die ich schon längst hätte lesen sollen. Im Hintergrund versuchte eine CD von The Neighboorhood leise, gegen das laute Prasseln des Regens anzukommen, und irgendwie konnte ich mich nicht so recht konzentrieren. Mich plagte eine gewissen innere Unruhe, die ich jedoch nicht einordnenden konnte.
Selbstverständlich hätte ich auch mit meinen Freunden Football spielen, mit einem Mädchen ausgehen oder ehrenamtlich hilfsbedürftige Katzen von Bäumen holen können. Doch ich hatte weder auf das eine noch das andere sonderlich viel Lust. Um genau zu sein, gar keine. Manchmal musste ich eben für mich sein. Besonders, wenn meine Teamkollegen mich mal wieder so unter Druck stellten wie aktuell.
„River, Schätzchen, öffnest du bitte die Tür?„, ertönte hektisch die glockenhelle Stimme meiner Mutter, die sich gerade unter der Dusche befand. Verwundert hievte ich mich vom Bett und streckte kurz meine müden Knochen. Merkwürdigerweise hatte ich die Türklingel gar nicht bemerkt.
Seufzend legte ich das langweilige Buch sowie meine Lesebrille zur Seite. Vermutlich wollten die neuen Nachbarn sich vorstellen.
Rasch fiel mir auf, dass der Tag sich bereits zum Ende neigte, da der Himmel ein leichtes Abendrot angenommen hatte. Gemütlich schlurfte ich in meiner grauen Jogginghose und den abgeranzten Hausschuhen, die mir Grandma mal vor Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, hinunter zur Tür.
Als ich die Tür öffnete, stand vor mir ein eher klein geratenes Mädchen, das etwa in meinem Alter zu sein schien. Sie blickte durch ihre blauen Augen zu mir auf und hielt mit beiden Händen einen Teller mit perfekt gold-braun gebackenen Keksen.
Den Verlauf der Geschichte nicht kennend, hinterfragte ich diesen Moment nicht. Da war kein kosmischer Funke und auch kein"plötzlich stand die Zeit still". Da waren nur ein Mädchen und ein Junge, die einander vollkommen fremd waren, und ein Teller Kekse aus dem Supermarkt. Schon lustig, wie viel dieser Tag, oder eher dieses Mädchen noch verändern würde, auch wenn es noch nicht so schien.
So unhöflich es auch war, ich musterte das Mädchen einen Moment lang von oben bis unten.  Ihr wirrer, blonder Haarschopf sowie ihr übergroßes Nirvana-Shirt klebten nass an ihr. Doch da sie weiterhin im strömenden Regen stand, anstatt sich unter die Überdachung unserer Haustür zu stellen, nahm ich an, es scherte sie einen feuchten Dreck, dass sie klatschnass war. Ihr war es scheinbar egal, was andere von ihr dachten oder zumindest, was ich von ihr dachte. Ansonsten würde sie nicht in diesem Aufzug vor mir stehen. Und genau diese Einstellung gefiel mir, obwohl ich noch kein einziges Wort mit ihr gewechselt hatte. Alles in allem gefiel auch sie mir.
Zugegeben, sie war wirklich hübsch, aber nicht auf diese einfache Weise, die es einem nicht schwermachte, sich in ihrer Erscheinung zu verlieren. Sie war eher die Art Mensch, die immer schöner wurde, je öfter man sie anblickte.
„Hey", sagte ich schließlich vorbildlich lächelnd, um das – von dem Platschen des Regens ausgefüllte – Schweigen zu brechen.
Das Mädchen hingegen konnte sich nicht zu einem Lächeln aufraffen und blieb bei ihrer monotonen Miene, als sie zu sprechen begann:"Hallo, wir sind gerade nebenan eingezogen und ich soll diese Kekse, die ganz sicher nicht selbst gebacken sind, vorbeibringen.„
Grinsend nahm ich den Teller entgegen und nickte:"Danke, das ist nett. Meine Mom wird sich sicher freuen. Willkommen in der Nachbarschaft.„
Sie nickte bloß reserviert und wollte offenbar gerade wieder umkehren, als ihr noch etwas einfiel:"Ach so und könnten wir uns bitte einen Kochtopf leihen? Unsere sind noch nicht in den ausgepackten Kisten aufgetaucht.„
Ich nickte etwas verwirrt und ging mit hochgezogenen Brauen in die Küche. Irgendwie war die Kleine seltsam. Sie schien einer dieser Menschen zu sein, die glaubten alle anderen durchschauen zu können, aber selbst nie verstanden zu werden. Sie glaubte, das machte sie anderen überlegen. Ich kannte Mädchen wie sie und wusste gut, dass es nur klug war, von diesen Eigenschaften Abstand zu halten. Andererseits tat sie mir leid. In diesem Alter in eine neue Stadt zu ziehen und dann auch noch in eine so eigenartige wie Springsnow musste nicht einfach sein. Da würde ich vermutlich auch schmollen. Außerdem tat ich gerade doch auch nichts anderes, als zu glauben, sie durchschaut zu haben und anhand dessen zu beurteilen.
Schnell stellte ich den Teller auf der Anrichte ab, griff nach einem Topf aus dem Schrank und machte mich erneut auf den Weg zur Tür. Dort stand sie immer noch mit verschränkten Armen und betrachtete ausgiebig die anderen Häuser, die mit ihren makellosen Fassaden und gepflegten Vorgärten die breite Straße säumten.
„Hier, bitteschön." Immer noch freundlich lächelnd reichte ich ihr den Topf und als sie danach griff, ließ ich mir einen Wimpernschlag lang Zeit, bevor ich losließ. Bemüht, so zu tun, als hätte sie es nicht bemerkt, räusperte sie sich und presste ein gezwungenes"Danke" heraus. Einen Moment lang blickten wir einander bloß argwöhnisch an, bevor sie sich umdrehte und ohne ein Wort ging.
Als sie bereits unseren Vorgarten durchquerte, beschloss ich, ihr noch einmal hinterher zu rufen:"Wie heißt du?„ Meine Stimme hallte durch die Straße und ihre Lautstärke wurde lediglich vom Regen gedämpft.
Irritiert wandte sich mir das Mädchen mit dem blonden Haar erneut zu und legte fragend den Kopf schief, so als wäre es sonderbar, dass ich sie nach dem Offensichtlichsten, ihrem Namen, fragte.
„Ich kann doch niemandem meinen Lieblings-Topf ausleihen, dessen Namen ich nicht kenne", ergänzte ich grinsend und beobachtete, wie sie merklich einlenkte.
„Ich heiße Autumn", rief sie zurück und obwohl sie mir bereits erneut den Rücken zugekehrt hatte, hörte ich aus ihrer Stimme heraus, dass sie lächelte. Zumindest glaubte ich das.
Autumn also.
Autumn wie der Herbst...

Es war ein ganz gewöhnlicher Montagmorgen.
Während Mom mich mit irgendwelchen Banalitäten von wegen Frauenverein, Verkehrssicherheit und Lebensmittelskandalen vollquatschte, schaufelte ich gemächlich mein Müsli in mich hinein und gab Mom das Gefühl, ich würde ihr zuhören, indem ich ab und zu abwesend nickte. Diesen Trick hatte ich von Dad gelernt. Dieser saß neben mir, las seine Tageszeitung und tat das Gleiche.
Doch plötzlich machte mich Moms Geschwafel hellhörig.
„River, nimm die Nachbarstochter mit zur Schule. Sie hat kein Auto und kennt sich hier ja noch gar nicht aus. Außerdem wäre ein Freund in der Schule sehr hilfreich, um sich zu integrieren. Wirklich nette Leute sind unsere Nachbarn. Ich habe Susan dieses Angebot echt gerne gemacht", plauderte Mom fleißig weitere und ich wusste erstmal nicht, damit umzugehen. Ich würde Autumn mit zur Schule nehmen.
Eigentlich sollte es mich ärgern, dass Mom einfach über meinen Kopf entschieden hatte. Doch irgendwie tat es das nicht. Eher im Gegenteil. Ich fand es cool, Autumn mitzunehmen. Vielleicht würde ich so etwas mehr über das schräge Mädchen von nebenan erfahren. Frischer Wind konnte dieser eingerosteten Stadt nur guttun.
Zustimmend nickte ich und schlürfte geräuschvoll die übrige Milch aus meiner Müslischale.
„River, du musst los", drängte meine Mutter schließlich und schnippte mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herum. Was musste sie denn auch ständig so hektisch sein?
Genervt murmelte ich ein kaum hörbares "Hetz mich nicht", drückte meiner Mutter einen Kuss auf die Wange, klopfte meinem Vater kurz auf die Schulter, was dieser jedoch nur mit einem desinteressierten Kopfnicken registrierte, und verließ dann mit meiner vollgepackten Schultasche das Haus. Doch, anstatt wie sonst direkt zu meinem Wagen zu gehen, machte ich einen kurzen Abstecher zum Nachbarshaus, wo ich klingelte.
Auf dem nagelneu glänzenden Klingelschild blitzte in geschwungenen Buchstaben der Name White. Autumn White also.
Ich hörte sie noch so etwas wie "Ciao Susan„ rufen, bevor sie schließlich durch die Tür und vor mir zum Stehen kam.
Autumn war eindeutig nicht zu verachten, besonders mit trockenen Haaren nicht. Sie trug eine locker sitzende Jeans, ein rot kariertes Hemd und schwarze Boots. So würde sie sich in der Schule definitiv von den anderen Mädchen und ihren gebügelten Blusen abheben.
„Willst du mich weiter anstarren, oder können wir los?„, fragte sie und verdrehte belustigt ihre Augen, wobei ihre Mundwinkel nicht den Hauch einer Regung zeigten.
Ich nickte und lief mit ihr im Schlepptau wortlos zu meinem Auto. Den schwarzen Range Rover hatte ich gebraucht von meinen Grandpa geschenkt bekommen und er war seither mein ganzer Stolz. Auch, als wir einstiegen und uns anschnallten, blieb es still zwischen Autumn und mir.
„Ich heiße übrigens River", stellte ich mich überflüssigerweise vor, während ich den Motor startete und losfuhr. Als ich kurz zu ihr hinüberlinste, erwiderte sie meinen Blick nicht.
„Ich weiß. Für gewöhnlich steige ich nämlich nicht in das Auto eines Jungen, dessen Namen ich nicht kenne", erklärte sie mit einem stoischen Blick aus dem Fenster.
Vergeblich versuchte ich, mich voll und ganz auf die Fahrbahn zu konzentrieren, doch ihre Anwesenheit und die Tatsache, dass sie mich offenbar doof fand, machten mich spürbar nervös. Sonst fanden mich die Leute immer klasse, besonders Mädchen. So dämlich es sich auch anhörte.
„Schönes Wetter heute", stellte ich schließlich nahezu fragend fest, um die Stille zu durchbrechen, doch bereute es sofort. War das gerade mein Ernst? Ich klang wie meine Mom auf einer ihrer Gartenpartys. Dabei hasste ich Smalltalk.
„Ich hasse Smaltalk", sagte Autumn daraufhin mit ausdrucksloser Miene, wie ich aus dem Augenwinkel erkennen konnte. Na wenigstens waren wir uns in einer Sache einig.
„Ich auch", gab ich betreten zu und hätte mich selbst dafür schlagen können.
„Aber du hast guten Musikgeschmack", ergänzte sie auf einmal grinsend.
Als sie meinen fragenden Blick bemerkte, lachte sie kurz auf. Ihr Lachen war schön, wirklich schön. Es wirkte nicht, als würde sie mich auslachen, und plötzlich hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass sie mich scheiße fand.
„Unsere Zimmer liegen gegenüber voneinander. Wenn du Musik hörst, höre ich sie automatisch auch. Aber, hey, so profitieren zwei Leute von deinen wirklich lauten Boxen. Meine Anlage ist nämlich noch nicht angeschlossen", erklärte sie, während ein zaghaftes Schmunzeln ihre Lippen umspielte und schaute weiterhin aus dem Fenster, betrachtete wie unser kleines Städtchen an uns vorbeizog.
Nun war ich der, der leise lachen musste.
Auf irgendeine schräge Weise, war sie dreist und anziehend zugleich, doch ich verbannte diesen Gedanken sogleich. Nebenbei schaltete ich doch noch das Radio an, woraufhin Autumn willkommen seufzte. So stellte man sie scheinbar zufrieden. Den Rest der Fahrt verbrachten wir schweigend. Wir waren eingehüllt vom Klang der Musik und einer angenehmen Stille unsererseits.
Als wir auf dem Schulparkplatz parkten, sie die Musik abstellte und ich die Handbremse anzog, nickte sie mir nochmal zu und murmelte ein leises"Dankeschön". Ich lächelte und wir stiegen gemeinsam aus. Als wir gerade den Schulparkplatz überquerten und sie sich abwenden wollte, hielt ich sie auf.
„Du solltest zum Sekretariat. Ich bringe dich hin", beschloss ich kurzerhand, umfasste mit meinen Fingern kurz ihr linkes Handgelenk und zog sie mit in Richtung Sekretariat.
„River, ich bin fähig, mich alleine zurechtzufinden, und laufen kann ich auch problemlos selbstständig, ich brauche niemanden, der mich herumführt", patzte sie, doch dem schenkte ich keine Beachtung. Kurz darauf gab sie nach und hielt sich stets einige Schritte hinter mir. Bis wir letztendlich zusammen im Sekretariatsflur saßen und auf einige Formulare sowie ihren Stundenplan warteten.
„Okay, warum kann dich die Bürotante da vorne so gut leiden?„ Autumn beugte sich leicht zu mir herüber und blickte zu mir herauf. Damit spielte sie wohl auf Mrs. Bright, die korpulente Zweitsekretärin an, die mir immer wieder ein herzliches Lächeln schenkte.
„Ich bin der erstaunlich sympathische Captain des Footballteams. Warum sollte man mich nicht mögen?„, flüsterte ich mit einem betont schelmischen Grinsen auf den Lippen und beugte mich ebenfalls etwas zu ihr hinüber. Dafür erntete ich dann einen kleinen Klapps auf den Hinterkopf und ein abfälliges "Angeber" von Autumn. Mit zusammengekniffenen Augen rieb ich mir den Hinterkopf.
„Lass mich raten. Du bist auch noch richtig gut in der Schule und alle Mädchen stehen auf dich, aber das interessiert dich nicht, denn du bist super glücklich mit deiner Freundin, der ersten Cheerleaderin", mutmaßte Autumn mit erhobener Augenbraue und schenkte mir einen Blick, den ich gar nicht mochte.
Stirnrunzelnd betrachtete ich sie einen Moment lang nachdenklich, ehe ich zu sprechen begann:"Du kannst das Leben, das ich führe vielleicht lächerlich finden, aber ich lebe dieses Leben gern. Ich kann mir vorstellen, wie hart es ist, im Senior Year auf eine neue Schule zu wechseln, und wenn du möchtest, dass die Menschen hier unvoreingenommen auf dich zugehen, solltest du dasselbe tun.„
Überrascht blinzelte sie mir entgegen und ich glaubte sogar, einen Funken Bewunderung für meine Ansprache in ihren Augen erkennen zu können.
„Da hast du Recht. Womöglich überrascht mich deine Welt ja, Mister Perfect", gab sie schmal lächelnd zu und fuhr sich durch die blonden Haare.
Ich lachte trocken auf und suchte ihren Blick:"Glaub mir, du wirst früh genug feststellen, dass ich nicht perfekt bin und mein Leben ist es auch nicht. Überraschen werde ich dich trotzdem.„
Just in diesem Moment kam die Sekretärin hinter ihrem Schreibtisch hervor und auf uns zu.
„Miss White, Ihre Papiere und Ihr Stundenplan", flötete Mrs. Bright und hielt einen Stapel Papierkram in die Luft, den Autumn kurz darauf dankend an sich nahm.
„Mr. Smith, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich ein wenig um Miss White kümmern würden, bis sie sich hier eingelebt hat." Dieses Angebot konnte ich Mrs. Bright selbstverständlich nicht abschlagen ...

Ein Mädchen Wie SieWhere stories live. Discover now