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3. Kapitel

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Rivers POV:

„Lass uns nie wieder etwas in die Luft jagen", beschloss Autumn entschlossen, doch mit einem genervten Unterton, blies sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht und leerte einen Eimer mit Dünger über einem Gemüsebeet aus. Zustimmend nickte ich und rümpfte meine Nase, die sich allmählich von dem strengen Düngergeruch angegriffen fühlte.
Jetzt schon hasste ich den Gartendienst, zu dem Autumn und ich verdonnert wurden, bis auf's Mark. Auf den Gestank und den hartnäckigen Dreck, welcher sich in unsere Schuhsohlen fraß, konnte ich getrost verzichten. Außerdem verabscheute ich Gartenarbeit schon immer, ich hatte einfach keinen grünen Daumen. Am Ende würde ich dem Gartenklub wahrscheinlich noch Schmerzensgeld zahlen müssen, weil ich vermutlich ganze Arten mit meiner Unfähigkeit ausrottete.
„Hey Leute!„ Cassedy, ein übermotiviertes Mitglied des Gartenklubs, tauchte neben uns auf,"Autumn, du musst das ein bisschen sensibler angehen. Pflanzen sind auch nur Lebewesen", kritisch beäugte sie Autumns Arbeit und zog dabei ihre Augenbrauen argwöhnisch zusammen.
„Es tut mir so leid. Ab jetzt werde ich sorgsamer mit unseren biologisch angebauten Freunden hier umgehen", verkündete Autumn ironisch und fasste sich gespielt ergriffen ans Herz. Dann stemmte sie ihre Hände in die Hüften und blickte gen Himmel, fast so, als bat sie um Erlösung.
„Du solltest besser auf deinen Ton achten", fügte Cassedy ein wenig eingeschnappt hinzu. Autumn schenkte ihr ein scheinheiliges Lächeln und widmete sich wieder dem Unkrautzupfen.
„River, du machst das wirklich gut für's erste Mal, du bist wohl ein wahres Naturtalent", lobte Cassedy mich unnötigerweise und wendete sich letztlich mit einem engelsgleichen Gesichtsausdruck, der scheinbar mir gegolten hatte, von uns ab.
„Okay, unser Sweetheart steht total auf dich", flötete mir Autumn ins Ohr und rupfte eine verdorrte Löwenzahnblume aus dem Rand des Betonkübels, aus dem im nächsten Frühjahr zahlreiche Veilchen sprießen würden.
Ich hätte jetzt sagen können, dass ich es unglaublich faszinierend fand, etwas mit meinen eigenen Händen erschaffen zu haben, Schöpfer von einem kleinen Stück Natur zu sein und für etwas Verantwortung übernommen zu haben. Aber leider war das nicht der Fall und ich zählte die Minuten, bis wir endlich hiervon erlöst sein würden.
„Tja, sie hat halt Geschmack", erwiderte ich süffisant grinsend.
Cassedy war ein wirklich nettes Mädchen. Ich hatte auf dem letzten Schulball mal mit ihr getanzt und da unsere Mütter einander kannten, hatten wir als Kinder öfter miteinander gespielt. Aber sie war eines dieser überdurchschnittlich perfekten Mädchen, die zu allem, was ich sagte, stets die richtige Antwort kannte oder eher die, die ich hören wollte.
„Das sehe ich nicht so", behauptete Autumn schmunzelnd und entfernte Moos aus einer Fuge.
„Ach ja?„ Ich wagte einen großzügigen Griff in einen Eimer mit Dünger und pflatschte ihn geradewegs mitten auf Autumns, ohnehin schon dreckigen, Overall. Ihr Gesichtsausdruck war zum Schreien. Glücklicherweise trug ich, genau wie sie, Handschuhe.
„Das hast du jetzt nicht getan", geschockt verengte sie ihre großen, blauen Augen zu Schlitzen, nur um mir kurz darauf ebenfalls einen Hieb Dünger auf meinen Overall zu klatschen. Angewidert blickte ich an mir herunter.
„Hey Leute!„, noch bevor unsere kleine, wortwörtliche Schlammschlacht weiter ausarten konnte, schritt Cassedy fassungslos ein und fuhr sich verzweifelt durch das rote Haar,"Lasst das, ihr habt schon genug angerichtet! Wenn so etwas nochmal vorkommt, werde ich mit Direktor Clark sprechen müssen. Und jetzt verschwindet einfach. Ich hoffe, ihr besorgt euch bis morgen ein bisschen Arbeitsmoral."
Wutentbrannt stapfte Cassedy in ihren Gummistiefeln davon und ließ Autumn und mich zurück.
„Ich glaube, mit ihr was anzufangen, kannst du dir jetzt abschminken", presste Autumn schadenfroh kichernd hervor.
„Das hatte ich auch gar nicht vor, Kleines." Schmunzelnd zwinkerte ich ihr zu und verschwand dann, um so schnell wie möglich diesen stinkenden Overall loszuwerden.


„Du sitzt jeden Tag in meinem Auto, aber ich weiß so gut wie nichts über dich", stellte ich fest während wir an einer roten Ampel hielten.
Es stimmte. Ich hatte genaugenommen keine Ahnung, wer Autumn White eigentlich war und sie nicht, wer ich war. Vielleicht machte sie das auch noch interessanter. Springsnow war diese Art von Ort, an dem man geboren und begraben wurde. Hier traf man nicht sonderlich oft auf neue oder gar andere Gesichter. Hier sah jeder Tag gleich aus und so auch, was jeden Tag von dir erwartet wurde.
„Was möchtest du denn wissen?", fragte sie argwöhnisch und trommelte mit ihren dunkelrot lackierten Fingernägeln auf dem Armaturenbrett herum. Die Melodie erkannte ich zwar nicht, doch irgendwie kam sie mir bekannt vor.
Nach kurzem Überlegen fragte ich schließlich ganz geradeheraus das Banalste, was mir einzufallen schien:"Wann hast du Geburtstag?„
„Wow, River, jetzt kennst du mich wirklich. Am zwanzigsten November", antwortete sie wenig begeistert und warf mir einen sarkastischen Blick zu."Denk dir mal was Kreativeres aus.„
„Was ist deine größte Angst?„ Wir nahmen gerade an Fahrt auf und ich öffnete mein Fenster ein wenig, um die an uns vorbeiziehende Spätsommerbrise zu genießen. In den letzten Tagen hatten wir uns dem Herbst immer mehr angenähert.
„Meine größte Angst ist es, nicht genug zu sein, niemals das Maß zu erreichen", erklärte sie bedächtig und sah auf ihren Schoß, in dem sie inzwischen ihre Hände gefaltet hatte.
Einen Augenblick lang ließ ich mir ihre Worte durch den Kopf gehen und versuchte vergebens, daraus schlau zu werden. Verwirrt gab ich mir einen Ruck und hakte nach:"Welches Maß?„
Mit einem bittersüßen Lächeln auf ihren sonst so eisigen Lippen schüttelte sie den Kopf:"Das weiß ich nicht. Ich weiß bloß, dass ich noch nie genug war. Mir fehlt etwas und ich weiß nicht, was. Ich bin unvollständig.„
Ich hatte keine Ahnung, was sie so denken ließ oder was genau sie damit meinte, aber ich konnte mir nicht vorstellen, nach etwas zu suchen, das sich genau vor meiner Nase befand, und doch zu blind zu sein, um es zu erkennen. Das musste ungemein frustrierend sein.
„Das ist so falsch. Ich kenne dich nicht. Ich habe nur einen winzigen Bruchteil von dem gesehen, was du bist, und ich weiß nicht, wie du mehr als das sein willst, was du bist. Mehr als genug kannst du doch gar nicht sein", entgegnete ich sauer, weil sie so eine geringe Meinung von sich selbst zu haben schien.
„Und wovor hast du am meisten Angst?„, fragte sie schließlich, meine Worte gekonnt ignorierend, und wandte sich mir wieder etwas mehr zu. Das Fenster auf ihrer Seite war einen Spalt geöffnet und so flatterte ihr blondes Haar unruhig im Wind umher.
„Davor, dass die Menschen mich für den Teil von mir verurteilen, der nicht das ist, was sie von mir erwarten", antwortete ich ehrlich und bog gemächlich in die Einfahrt meines Elternhauses ein.
„Um ganz ehrlich zu sein, habe ich dich anfangs genau dafür verurteilt, weil ich der Meinung war, dass du nicht mehr als das bist, was man von dir erwartet", entgegnete sie fast schon belustigt und suchte meinen Blick.
Als wir uns abschnallten wussten wir nicht wirklich mehr über einander und trotzdem hatte ich das Gefühl, Autumn nun ein kleinwenig besser zu kennen. Zumindest waren wir auf einem guten Weg:
Jetzt stellte sich bloß die Frage, warum ich dieses oft ziemlich abweisende, nicht immer besonders nett Mädchen von nebenan eigentlich kennenlernen wollte.



„Erinnere mich bitte daran, dich nie wieder Kaffee kochen zu lassen", angewidert verzog ich das Gesicht und ließ meinen noch halb gefüllten Kaffeebecher geradewegs in einen Mülleimer plumpsen. Chris, mein bester Kumpel, und ich schlenderten gerade durch die Schulflure und er berichtete mir, meiner Meinung nach viel zu detailliert, von seinem letzten One Night Stand.
Dieser war keine Seltenheit und viel zu oft musste Chris danach einige, definitiv zu intime, Details bei mir loswerden. Demnach konnte ich getrost darauf verzichten, mir seine Bettgeschichten anzuhören, und von seiner Art, mit Mädchen umzugehen, war ich auch nicht sonderlich begeistert, doch ich musste das akzeptieren. Ich war sein Freund. Zwar konnte ich ihm meine Meinung mitteilen, aber ich konnte sie ihm nicht aufzwingen.
„Die wievielte war das diesen Monat? Es wundert mich, dass du noch nicht unter Erektionsstörungen leidest", murmelte ich grinsend und kaum hörbar, während ich beiläufig mein Schließfach öffnete und meine Mathesachen darin verstaute.
„Wenigstens hatte ich im Gegensatz zu dir, nicht schon so lange keinen Sex, dass meine Jungfräulichkeit sich wieder zurückgebildet hat", erwiderte Chris siegessicher grinsend und erntete dafür von mir einen Schlag auf den Oberarm.
Chris war der Stiefbruder von Eva, mit der ich seit Kindertagen befreundet war. Wir kannten uns längst nicht so lang und trotzdem war er mein bester Freund. Auch, wenn er nicht so wirkte, man konnte nicht nur Spaß mit ihm haben. Wenn es darauf ankam, war er ein guter Zuhörer. Trotzdem gab es immer noch eine Menge Dinge, die wir übereinander lernen mussten.
„Aber, hey, irgendwann kommt bestimmt ein Mädchen um die Ecke, das ähnlich kompliziert ist wie Raven. Wenn das dein Standard ist, ist es nur natürlich, dass du nicht direkt die nächste findest."
Ich warf ihm einen resignierten"Ist-das-dein-Ernst-Blick" zu, knallte die Tür meines Spindes zu und beschloss, ihn einfach zu ignorieren. Meine Exfreundin ins Spiel zu bringen, war nicht besonders schlau. Außerdem hatte ich einfach keinen Sex mehr gehabt, weil ich es nicht mit irgendeiner wollte. Das war für mich nicht der Sinn von Sex.
In der nächsten Stunde würde ich Psychologie haben, einer meiner absoluten Lieblingskurse. Die irgendwie spezielle Art meines Kursleiters Mr. Spiegel faszinierte mich schon immer. Der ältere Mann, mit den längst ergrauten Haaren, der obligatorischen Denkerfalte auf der Stirn und der kupferfarbenen Nickelbrille, die immer ein wenig schief auf seiner Nase saß, hatte etwas an sich, was uns Schüler immer wieder auf's Neue zum Nachdenken anregte. Niemand entging seinem wachsamen Blick. Wenn ich genauer darüber nachdachte, erinnerte mich Mr. Spiegel ein bisschen an Autumn.
„Na, schlechtester Laborpartner, den die Welt je gesehen hat? Bereit, tiefste Einblicke in die menschliche Psyche zu erhalten? Unwillkürlich musste ich lächeln, als Autumn, an die ich gerade noch gedacht hatte, so plötzlich mit ihrer Tasche über der Schulter neben mir auftauchte
„River? Warum erzählst du mir neuerdings nicht, dass du so hübsche Freundinnen hast?„, fragte Chris mit seinem typischen möchtegerncharmanten Machogrinsen auf den Lippen, welches ich nur zu gut kannte und demnach auch zu fürchten wusste.
„Autumn wird ganz sicher keines deiner Betthäschen, Chris. Also behalt deine Finger bei dir", warnte ich ihn vor und legte zum Schutz einen Arm um Autumn. Diese windete sich jedoch schnell wieder aus meinem Griff und betrachtete das Geschehen weiterhin argwöhnisch.
„Schon gut, Alter, ich rühr sie nicht an!„ Beschwichtigend hob er seine Arme in die Luft und ich nickte zufrieden, als er sich wenig motiviert vom Acker machte.
„Schade, ich dachte, jetzt werde ich endlich mal Zeugin, eines echten Rudelkampfes werden", merkte Autumn ironisch an und machte sich somit offensichtlich über meinen Versuch, sie vor meinem besten Freund, dem"Frauenversteher" zu beschützen, lustig.
„Wer ist unser kleiner Casanova eigentlich?„, fragte Autumn schief grinsend und spielte somit auf Chris an, der bereits weit und breit nicht mehr zu sehen war.
„Er ist sowas wie mein bester Freund", gab ich gespielt beschämt zu und fuhr mir mit einer Hand verlegen durch mein kurzes, braunes Haar.
„Ach du meine Güte, bekommt der ‚ach so beliebte' Quaterback echt keinen anderen Kumpel ab?„ Skeptisch sah sie zu mir auf und legte ihre Stirn in Falten.
„Er ist der Wide Receiver, ich glaube, unsere Freundschaft basiert auf einer klischeehaften Vorbestimmung", erklärte ich milde, woraufhin Autumn verstehend nickte.
Als wir unseren gut besetzten Klassenraum betraten, saß Mr. Spiegel bereits am Pult und kritzelte höchstbeschäftigt in einem Notizbuch herum.
„Wie ich sehe hat sich eine neue Schülerin zu uns gesellt", stellte er fest als er seinen Blick hob und richtete sich die schief sitzende Brille.
„Gut erkannt, ich bin Autumn White", Autumn trat ihm mit einem freundlichen Lächeln gegenüber, um das ich meinen Lehrer glatt beneidete. Ich hatte mir bereits gedacht, dass die beiden gut miteinander auskommen würden.
Während wir platznahmen, trudelten mit der Zeit immer mehr unserer Mitschüler ein, darunter er. Die korrekte Definition von"er" lautete Davis Miller oder auch mein selbsternannter Erzfeind. Ich hasste diesen Typen so sehr, wie jede vernünftige Feministin Donald Trump. Und warum das so war, hatte gute Gründe, auch wenn es auf den ersten Blick schwachsinnig zu sein schien, in meinem Alter noch sowas wie einen Erzfeind zu besitzen.
Als er sich auf den Weg zu seinem Platz machte, der unglücklicherweise direkt hinter Autumns war, welcher sich wiederum neben meinem befand, erdolchten wir den jeweils anderen mit Blicken.
„Wow, was war das denn?„, fragte Autumn, die mich ein wenig amüsiert musterte und offensichtlich auf den stummen Kampf von Davis und mir anspielte, mit gesenkter Stimme.
„Ich glaube da ist ein Vogel gegen die Scheibe geflogen", vermeintlich ahnungslos lugte ich in Richtung Fenster. Natürlich gab es dort keinen Vogel, ich wollte einfach nur unangenehmen Fragen aus dem Weg gehen.
„Sehr witzig, River. Nur damit du es weißt, ich bin nicht dumm, nur weil ich blond bin." Augenrollend ließ sie das Thema fallen und widmete sich dem Unterricht, der gerade begann.


Als Autumn und ich später an diesem Tag in meinem Auto saßen, auf dem Weg nach Hause, schien sie etwas nicht loszulassen. Sie starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Straße und nestelte nachdenklich am Saum ihres Flanellhemds herum.
Gerade, als ich die Spannung in der Luft kaum noch ertragen konnte, platzte sie mit ihren Gedanken heraus:"Wer war dieser Junge heute, den du so angestarrt hast?„
„Ich habe niemanden angestarrt", behauptete ich nicht besonders überzeugend und presste meine Lippen zusammen. Autumn musste nicht auch noch in meine Probleme hineingezogen werden.
„Komm schon, River, du weißt, wen ich meine." Mit hochgezogenen Brauen bohrte sie weiter nach und mir wurde klar, dass sie nicht so schnell nachgeben würde.
Schnaufend – meine Augen fest auf die Straße gerichtet – gab ich schließlich nach und presste seinen Namen förmlich heraus:"Davis Miller.„
Autumn nickte, zwar nicht besonders zufrieden, jedoch schien sie akzeptiert zu haben, dass sie nicht mehr von mir bekommen würde. Während sie also leise seufzend auf ihr Handy blickte und schweigend der Musik lauschte, welches aus dem Radio dröhnte, spielte sich in meinem Kopf immer wieder ein und dasselbe Szenario ab.
Strömender Regen, quietschende Reifen. Ravens verzweifelte Versuche, sich zu entschuldigen, beendigt durch ihren eigenen schrillen Aufschrei. Und das alles, weil Davis Miller, mein eigentlich bester Freund, unbedingt mit meiner ersten Liebe schlafen musste.
Von den Menschen betrogen zu werden, die man am meisten liebte, war wirklich, wirklich bitter. Und so sah ich heute noch, wenn ich nicht schlafen konnte, Ravens blutverschmiertes Gesicht vor mir und jedes Mal, wenn ich an dem Baum vorbeikam, in den wir damals hineingerast waren, musste ich schlucken und bis zehn zählen.
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn.
Dann konnte ich wieder atmen.



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