Kapitel 16

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Alestra hatte nicht vergessen, dass Melissa noch immer etwas vor ihr geheim hielt, doch sie hatte es bis jetzt nicht gewagt danach zu fragen. Nun kam ihr Melissa wohl zuvor. Doch die Überraschung auf ihrem Gesicht konnte sie dennoch nicht verbergen. Eine unangenehme Stille breitete sich aus und um nicht allzu erwartungsvoll zu wirken, schlug Alestra betont lässig ihre Beine übereinander. „Alestra, ich habe keine Ahnung, was ich dir nun glauben soll. Erzähl mir die Wahrheit! Was ist das für ein geheimer Auftrag, auf den dein Spion mich mitnehmen will?" Ihre Stimme wirkte so aufgewühlt wie es wohl gerade in ihrer Seele aussehen musste.

Bevor Alestra die Gesichtszüge endgültig abhandenkommen konnten, reichte ihr Melissa das kleine zusammengefaltete Stück Pergament auch schon herüber. „Lies es einfach selbst und danach kannst du gerne nochmal versuchen mir alles zu erklären!" Das waren für heute eindeutig zu viele Überraschungen. Alestra nahm das raue Etwas vorsichtig entgegen und faltete es auseinander. Ihr starrte die Schrift einer Person, die erst vor kurzem der Kunst des Schreibens unterwiesen worden war, entgegen, so krakelig und unregelmäßig war sie.

Wir sollten deine kleine Freundin mitnehmen, nachdem du sie schon so schamlos ausgenutzt hast, um mich reinzulegen. Sie weiß wahrscheinlich sowieso schon mehr als die anderen und sie wird sich mit dem, was sie weiß, sicherlich nicht zufriedengeben. Sollte sich also meine sonderbare Gesellin dazu durchringen können die Kleine einzuweihen, können wir morgen vor Sonnenaufgang zu dritt aufbrechen. Mit eurer hochverehrten Meisterin ist alles abgeklärt, da sie es auch für sicherer hält in einer größeren Gruppe zu reisen und sie könnte noch nützlich für uns werden.

Darunter befand sich lediglich ein Tintenklecks, der in ein undefinierbares Zeichen gezogen war. Mehr stand da nicht. Die kleinen Stiche, die in den einzelnen kantigen Buchstaben versteckt waren, konnte Alestra nur mit Mühe ignorieren, aber es gab wesentlich Wichtigeres, worum sie sich nun kümmern musste.

„Woher hast du das, Melissa?"

„Als ich aufgewacht bin, lag es vor der Tür, irgendjemand muss es darunter durchgeschoben haben." Er war hier gewesen und Alestra war sich sicher, dass ihn niemand bemerkt hatte und genau das bereitete ihr ein wenig Unbehagen. Diese sonderbare Gestalt musste sie in den nächsten Tagen ganz genau im Auge behalten, diese Möglichkeit hatte sie ja nun dank ihres Auftrags. Alestra erhob sich und ging langsam zum Fenster, um nicht nur etwas frische Luft in den Raum hineinzulassen, sondern auch in ihren Kopf. Die letzten paar Stunden schienen ereignisreicher als die letzten Jahre ihres Lebens gewesen zu sein und mittlerweile trat die Menge an Ereignissen über die Ufer. Alestra strich sich ein paar Haarsträhnen, die sich durch die nächtliche Brise gelöst hatten, hinter ihr Ohr, bevor sie sich wieder dazu durchringen konnte etwas zu sagen.

„Du hast es bereits gelesen. Ich muss einen Auftrag erledigen, der von höchster Wichtigkeit ist und höchster Geheimhaltung bedarf. Ich war kurz nachdem ich dich hierher gebracht habe bei unserer Meisterin und habe erst da davon erfahren. Und dreimal darfst du raten, wer noch dort auf mich gewartet hat!"

Sie starrte in Melissas ratloses Gesicht, das sich jedoch im nächsten Moment erhellte, als sie begriffen hatte. „Und er hatte natürlich, wie ich es geplant hatte, unser Gespräch von vorne bis hinten mit angehört ... ."

Melissa unterbrach sie jäh: „Arbeitet er etwa für sie?"

„Nein, aber sie arbeiten zusammen. Ich habe keine Ahnung, was er ihr im Gegenzug dafür gibt, dass eine ihrer Heilerinnen, also ich, diesen Auftrag für seinen Herrn erfüllt. Jedenfalls haben mich beide dadurch ganz schön in Bedrängnis gebracht, da ich weder von deiner Verletzung noch von euren geheimen Treffen erzählen konnte. Deshalb habe ich es so ausgelegt, als ob ich das alles viel präziser geplant und dieses ganze Gespräch nur inszeniert hätte." Auf ihre Worte folgte Stille, die erst ein paar viel zu lange Sekunden später von einem leisen „Danke" durchbrochen wurde.

„Es war das einzig Ehrenhafte, was ich tun konnte ohne irgendjemanden von uns beiden in Schwierigkeiten zu bringen. Wie es ja nun aussieht, wirst du uns also begleiten und dir scheint es auch wieder so gut zu gehen, dass das körperlich kein Problem sein sollte. Du hast ja gelesen, wann wir aufbrechen und die Nacht neigt sich schon fast ihrem Ende zu. Wir sollten versuchen wenigstens noch ein bisschen zu schlafen. Uns erwartet schließlich eine Reise nach Tarrarnar und du solltest dich auch noch halbwegs ausrüsten dafür."

Sie spürte schon beinahe Melissas überrumpelten Blick in ihrem Rücken, doch Alestra hatte einfach keine Kraft mehr ihr alles zu erklären und so sagte sie noch immer dem Fenster zugewandt lediglich: „Ich muss unserem Thronfolger das Leben retten."

Mit wenigen kundtuenden Worten schickte sie Melissa aus dem Zimmer. Alestras Blick hing noch immer zwischen den Bäumen, um die sich Fäden und Schleier aus Nebel in ihrer ganz eigenen Eleganz wanden.


Alestra - SchattennebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt