Kapitel 1

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"Mädchen!"

Die Stimme der obersten Schwester des Drachenordens hallte über den ganzen Hof, so dass die jungen Frauen in ihrem Tagwerk inne hielten und all ihre Köpfe suchend in Richtung der Obersten schwenkten. Als sie die Aufmerksamkeit aller hatte, hob sie beide Hände auf Hüfthöhe und begann zu Lächeln. Das war sehr ungewöhnlich, denn eigentlich war sie sehr streng, obwohl sie auch als gerecht galt. Ein Lächeln von ihr bedeutete, dass es gute Nachrichten sein mussten, die sie nun verkündete.

"Unser gütiger Herrscher hat uns die Nachricht überbringen lassen, dass er gewillt ist, seine Gemahlin auszuwählen. Auch unser Orden wird einige Mädchen in den Palast bringen, damit er wählen kann. Ihr wurdet beobachtet und es wurde uns eine Liste der möglichen Kandidatinnen übergeben."

Man konnte die freudige Erregung förmlich mit den Händen greifen. Ein wildes Stimmengewirr schwoll an, als die jungen Frauen aufgeregt schnatterten. Jede freute sich sich über die Aussicht, die Frau des Königs zu werden. Es gab nur wenige Mädchen, die sich nicht so darauf erpicht waren. Und eine davon hieß Lana.

Sie glaubte nicht daran, dass der König gerade sie erwählen würde. Sie war zu alt und zu willensstark, um sich einem Mann zu fügen, der sich einbildete, sich einfach eine Frau aussuchen zu können, auch wenn das immer noch die gängigste Vorgehensweise war.

Das Land Wikuna wurde immer noch von den Männern dominiert, auch wenn Lana zugeben musste, dass König Calarion schon einige Reformen durchgesetzt hatte und es um die Frauen im Land nicht mehr ganz so schlecht bestellt war. Dennoch gab es noch Dinge, die er in dieser kurzen Zeit nicht hätte ändern können.

Mädchen wie Lana zum Beispiel, wurden in die Orden gebracht, damit sie Disziplin lernten, welche die Männer von ihnen verlangten.

Natürlich war der Orden nicht dafür erschaffen worden, aber auch das hatte sich inzwischen zu einer Methode entwickelt, damit die Väter ihre augenscheinlich ungezogenen Töchter los werden konnten, ohne das Gesicht zu verlieren. Ihr Vater hatte dies getan, weil er mit Lana nichts anfangen konnte. Sie war ihm zu aufmüpfig gewesen und hatte einen potentiellen Ehemann nach dem anderen abgelehnt, bis er genug davon hatte und sie hierher brachte. Lana war sich bewusst, dass er sie nie wieder zu sich holen würde. Wahrscheinlich würde sie ein Leben lang hinter den Mauern des Ordens verbringen und diese Aussicht gefiel ihr nicht unbedingt.

Selbstverständlich gab es hier noch andere Mädchen, die wirklich den Orden beitreten wollten, um den ersten Drachen zu huldigen und ihr Leben den Gebeten zu widmen. Man bezeichnete sie immer als heilige Mädchen, da sie auch nicht von dieser Welt zu kommen schienen. Meist waren eben diese Mädchen zart, blass und ein noch so kleiner Windhauch brachte sie schon ins straucheln.

Immi war so ein Mädchen, aber im Gegensatz zu den anderen mied sie niemanden und blieb auch nicht nur bei ihren Glaubensgenossinen.

Immi war eine liebe junge Frau, die jedem ein Freund sein wollte. Aber zu Lana hatte sich ein besonderes Verhältnis gebildet. Immi schien immer zu wissen, was in Lana vorging und sie versuchte ihre temperamentvolle Freundin von Schwierigkeiten fernzuhalten, was ihr nicht immer gelang.

Gerade jetzt legte sie ihren Kopf auf Lanas Schulter und fasste ihre Hand.

Lana konnte nicht anders, als zu lächeln. Das schien eine von Immis Gaben zu sein, aber heute war Lana froh darum, denn am liebsten hätte sie einen der Tontöpfe genommen, den sie für den Tempel herstellen, und ihn gegen die Wand geworfen.

"Ich bin ganz ruhig, Immi."

Ihre Freundin lachte leise und es hörte sich wie kleine Glöckchen an.

"Das sah aber nicht so aus."

Lana schnaubte leise.

"Mir gefällt diese Vorstellung einfach nicht, dass dieser Kerl junge Frauen vor sich aufbauen lässt und dann einfach ein paar heraus pickt und bestimmt, dass sie nun den Drachen zu dienen haben."

Die Drachen von Wikuna - Calarion  (Band 1)Where stories live. Discover now