1 - Eine Frage des Vertrauens

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(Viktoria & Jonathan)

Späte Sonnenstrahlen stahlen sich zwischen den schweren Vorhängen hindurch und fielen auf die Freitreppe, auf der sich eine prunkvolle Prozession in Zeitlupe abwärts bewegte. Viktoria, die ehemalige Komtess von Klinmaere, nunmehr Prinzgemahlin und Gefangene des Hofstaates, befand sich an der Spitze und gratulierte sich innerlich zu der heutigen Kleiderwahl. Die ausladenden Tüllröcke ihres apricotfarbenen Kleides, die träge über die teppichbezogenen Steinstufen glitten und dabei nach hinten erstaunlich viel Platz beanspruchten, hielten ihr die Entourage vom Leib und verhinderten gleichzeitig, dass ein Gespräch mit den biederen Hofdamen entstehen konnte. Wohlwissend, dass alle ihre Augen auf sie gerichtet hielten, sah sie davon ab, mit den Fingern die steife Frisur zu lockern, obwohl sie ziepte und die Enden des Diadems unangenehm in ihre Kopfhaut drückten, wo sich baldige Kopfschmerzen ankündigten. Hatte sie sich ihre Tage auf Silbermeer so vorgestellt?

Die Tage, die früher nicht lang genug sein konnten, um ihre Unternehmungen zu füllen, zogen sich nun wie zäher Sand dahin, sodass sie das Ende eines jeden Tages, wenn sie alleine in ihren Gemächern lag, herbeisehnte. Sie hatte gedacht, sie wüsste, was sie in Kauf nahm, als sie einwilligte Jonathans Frau zu werden, doch es hatte nicht lange gedauert, bis das volle Ausmaß dieser Entscheidung sie einholte. Es belasteten sie nicht nur die strengen Regeln und eine Etiquette, die ihr ebenso fremd wie unerwünscht war, sondern auch die Erkenntnis, dass sie eine Fremde im Schloss geblieben war. Vom leisen Murmeln ihres Anhangs, der sich größtenteils aus Hofdamen zusammensetzte, die ihr folgten, um sich nachher hinter vorgehaltener Hand über ihre Fehltritte auslassen zu können, begleitet, steuerte Viktoria die Schlossgärten an; die, obgleich trostlos für den Frühling, doch der einzige Ersatz für die Ausritte waren, die Jonathan ihr untersagt hatte. Unwillkürlich glitt eine ihrer Hände zu ihrem flachen Bauch hinab und das Gefühl der Leere, das sie dabei verspürte, sandte einen scharfen Schmerz durch ihre Brust. Für einen Moment war sie dankbar für das enge Korsett, das ihr das Gefühl vermittelte, nicht auseinanderfallen zu können.

Ein leichter Wind wehte den salzigen Geruch des Meeres über die Gesellschaft hinweg und beim Anblick des grauer werdenden Himmels ertappten sich einige adelige Damen bei der Hoffnung, die Prinzgemahlin würde ihren Spaziergang kurzhalten, um nicht wie einige Tage zuvor in ernstzunehmender Entfernung zum Schloss in heftigen Regen zu geraten. Ih re Schritte beschleunigend, vergrößerte Viktoria den Abstand zu ihrer Entourage und raffte ihre Röcke, bevor sie flink zwischen den schmalen Wegen verschwand. Ihre Begleiterinnen in ihren Absatzschuhen hatten größte Mühe, mit ihr mitzuhalten und verfluchten die Tatsache, dass Prinz Jonathan nicht eine von ihnen gewählt hatte, was ihnen das Leben bedeutend einfacher gemacht hätten.

Viktoria, welche die Gärten in den letzten Monaten zu schätzen gelernt hatte und diese nun wie ihre Westentasche kannte, drückte sich durch eine schmale Öffnung zwischen zwei Hecken und vernahm erleichtert, dass ihre Entourage wenig später daran vorbeilief. Mit geringem Bedauern fiel ihr Blick auf die mitgenommenen Röcke in Apricot-Matsch und den Brocken feuchter Erde, der auf ihrem rechten Seidenschuh klebte – ein geringes Opfer für einige Minuten Ruhe außerhalb ihrer Gemächer. Die Person, die die königliche Etiquette verfasst hatte, musste eine einsame Person gewesen sein, schloss Viktoria aus der Prämisse, dass sie als Angetraute des Kronprinzen von einer Traube Hofdamen umgeben war, sobald sie ihre privaten Gemächer verließ. Es fehlte nur noch, dass sie an den Abort begleitet wurde und ihre Bemühen, erneut schwanger zu werden, vom halben Hofstaat mit eigenen Augen verfolgt wurden.

Als wenig später die ersten Regentropfen vom Himmel fielen, wäre die ehemalige Komtess am liebsten stehen geblieben, bis die Nacht über Walestein hereinfiel, doch in Gedanken bereits bei dem Tadel, den sie zweifelsohne nicht nur von der ältlichen Gräfin, die sie über die letzten Monate hinweg in das Leben und ihre vermeintlichen Aufgaben auf Silbermeer eingeführt hatte, sondern auch von Jonathan zu hören bekäme, trat sie widerwillig den Rückweg ins Schloss an. Es reichte bereits, dass der königliche Arzt das Reiten als potentielle Gefahrenquelle angeprangert hatte, es mussten nicht auch noch ihre Spaziergänge, die momentan das einzige waren, das sie bei Verstand hielt, zu dieser Liste hinzugefügt werden.

KupferkindWhere stories live. Discover now