9 - Bei Nacht und Nebel

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Beißende Kälte kroch durch Ravens Kleiderschichten, noch bevor sie die schwere Holztür hinter sich geschlossen hatte. Bedienstete und Wachen zu finden, die mit den richtigen Worten zu überzeugen waren, sie und ihre Freunde ungestört aus Silbermeer entkommen zu lassen, war nicht schwer gewesen. Cam und sie hatten ihr gesamtes Leben an Orten verbracht, die durch Macht und Geld zu kontrollieren waren. Schwieriger würde sich die Ausreise aus dem Ort selbst gestalten.

"Beeilt euch", bat Cam mit einem Blick zurück auf Raven und Asta, die noch nicht aus den tiefschwarzen Schatten der Schlossmauer getreten war. Der schwache Schein des Monds erhellte ihr blasses Gesicht für einen Moment, als sie sich auf den Prinzen zubewegte.

"Mir wäre wohler, wenn ich mich von dem Abkommen mit eigenen Augen überzeugen hätte können", merkte sie spitz an.

Raven, der es ähnlich erging, sagte nichts. Sie vertraute darauf, dass Cam sein Bestes gegeben hatte, um eine sichere Überfahrt nach Barassa zu ermöglichen. Schlussendlich wusste er genauso gut wie sie und Asta, welche Konsequenzen ein Scheitern ihres Plans hätte. Eine zweite Chance würde keiner von ihnen bekommen, um Silbermeer vor der Hochzeit zu verlassen.

Obwohl Cambriel eine kalte Fackel bei sich trug, entschied man sich im Dunkeln sein Glück zu versuchen. Der zunehmende Mond war kaum mehr als eine schmale Sichel, aber Cambriel und Raven kannten den Weg über die karge Klippenlandschaft in und auswendig. Asta folgte den beiden mit der Selbstsicherheit einer geübten Wanderin in schwierigem Terrain; trotzdem dauerte es länger als sonst, bis die drei Gefährten sich den Weg über den Platz vor dem Schloss gebahnt und Fuß auf den schlammigen Pfad ins Dorf gesetzt hatten. Die rauen Winde, von denen Walestein selten verschont blieb, brausten über den Klippenpfad und schluckten jedes Geräusch, das die Flüchtenden machten.

Als die ersten Häuser Walesteins sie umfingen, wurde der Pfad breiter und gepflastert. Still und dunkel lagen die Gassen der Außenbezirke vor ihnen, da es weit nach Mitternacht war und der Großteil der Bürger, deren Häuser sie eilig passierten, erst in einigen Stunden aus dem Bett musste. Je weiter sie in die schlafende Stadt vordrangen, desto dunkler wurde es, bis die ersten Wirtshäuser ihr gelbes Licht auf die Pflastersteine warfen. Vereinzelt standen Kunden vor den Tavernen zusammen, tranken ihr Bier aus oder tratschen, bevor sie auseinandergingen. Trotz der sorgfältigen Verkleidung der Prinzessinnen, zogen sie beim Anblick der betrunkenen Männer die Kapuzen tiefer in die Gesichter, um unwillkommener Aufmerksamkeit vorzubeugen. Cam legte eine Hand an Ravens Rücken, der kalt und klamm von dem Fußmarsch ins Dorf war.

"Nicht mehr weit, wir biegen hier an den Hafen ab", flüsterte er Raven ins Ohr, da er sich weitaus besser mit den verwinkelten Gassen des Bezirks auskannte als seine Begleiterinnen.

Keiner der halbnüchternen Passanten gaffte oder versuchte gar sie aufzuhalten, denn niemand ahnte, um wen es sich bei der nächtlichen Prozession durch die schmalen Gassen Walesteins handelte. Unbehelligt passierten sie Wirtshaus nach Wirtshaus, bis der Lärm ihrer Kundschaft leiser wurde.

Raven stieß erleichtert die Luft aus, als sich die Häuserblöcke vor ihr öffneten und die Sicht auf das Meer freigaben. Hölzerne Stege und Anlegeplätze säumten den steinernen Platz vor ihnen, der trotz der Uhrzeit geschäftig brummte. Männer schleppten zu zweit oder viert gewaltige Kisten über die Steine zu den Pieren; drei große Handelsschiffe lagen in dieser Nacht im Hafen von Walestein. Arbeiter liefen aus den Frachträumen wie Zinnsoldaten und Raven überkam beim Betrachten der lebhaften Szenerie unwillkürlich ein Hochgefühl. Heute Nacht würden sie ausschiffen und dann war es nur eine Frage der Zeit, bis sie ihren Vater und Barassa erreicht hatten. Der sichere Hafen ihrer Heimat würde ihnen Zeit zur Rast und weiteren Planung geben; vor allem jedoch den Schutz der westlichen Königsfamilie vor Almars Entschlossenheit, Cambriel an den Besetzer des goldenen Reichs zu verkaufen.

KupferkindWhere stories live. Discover now